Pisa-Ländervergleich:Verwahranstalten für Verlierer

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Wer nicht lesen kann, für den ist gesellschaftliche Teilhabe unmöglich. Pisa ist ein Demokratietest: Sachsen und Bayern haben ihn fast bestanden.

Tanjev Schultz

Ein Freistaat ist ein Land, das sich von der Herrschaft des Adels befreit hat; die Aufklärer des 18. Jahrhunderts haben das Wort "Republik" mit "Freistaat" übersetzt. Bayern, Sachsen und Thüringen werden manchmal dafür belächelt, dass sie sich noch heute Freistaaten nennen. Es ist aber ein Titel, auf den sie stolz sein können. Dass die drei nun die Pisa-Sieger sind, passt gut zusammen. Denn Pisa ist auch ein Test für die Demokratie.

Schülerin: Die Bildung eines Kindes dürfte nicht davon abhängen, wo es zur Schule geht. (Foto: Foto: ddp)

In einem Freistaat sind die Bürger der Souverän, ohne ausreichende Bildung können sie diese Rolle jedoch nicht richtig wahrnehmen. Die Bürger müssen auch selbst souverän sein. Sie müssen sich zurechtfinden in der Welt der Politik, sie müssen Zeitungen lesen und Nachrichten einordnen können. Deshalb sind vor allem die schlechten Leseleistungen vieler deutscher Schüler ein Angriff auf die Demokratie. Die drei Freistaaten schneiden dabei noch am besten ab - allzu tief verneigen braucht man sich vor ihnen allerdings auch nicht. In Bayern beispielsweise gehören immer noch 16 Prozent aller Jugendlichen zur Gruppe der besonders Leseschwachen, 10.000 Jugendliche bleiben ohne Schulabschluss.

Verwahranstalten für Verlierer

In einem Freistaat darf Bildung kein Privileg sein, das nur wenige genießen. Es widerspricht dem demokratischen Anspruch, wenn Kinder, die zu Hause wenig gefördert werden, abgeschoben werden in Verwahranstalten für Verlierer, die man mit dem Namen Hauptschule bemäntelt. Beide große Parteien in Deutschland haben in dieser Hinsicht Fehler gemacht. Statt mit dem Finger auf die anderen zu zeigen, sollten die Politiker es einmal mit Selbstkritik versuchen.

Die SPD hat es gut gemeint, als sie Gesamtschulen einführte. Gut gemacht hat sie es nicht. Wie Pisa zeigt, gibt es zu viele Gesamtschulen, in denen die Leistungen unakzeptabel schlecht sind. Außerdem war es unverantwortlich, auf Gesamtschulen zu setzen, ohne sofort die Hauptschule abzuschaffen. Für diese blieben nur die schwierigsten Schüler übrig. Erst jetzt wollen Länder wie Berlin ihren Fehler korrigieren.

Sozial durchlässig

Und die Union? Sie sollte, zumal in Bayern, endlich aufhören, so zu tun, als hänge am Fortbestand der Hauptschule auch die eigene Existenz. Aus Pisa kann sie lernen, dass das übersichtliche sächsische Schulsystem (kleine Klassen, keine Hauptschule) eine gute Alternative zur starren dreigliedrigen Struktur ist. Es ist zwar ein schöner Erfolg für Bayern, dass der Zugang zum Gymnasium in den vergangenen Jahren sozial etwas durchlässiger geworden ist. Nun ist es aber Zeit für den nächsten Schritt: Dem Geist eines guten Freistaats würde es entsprechen, die Haupt- und Realschulen wie in Sachsen zusammenzuführen.

Der Titel Freistaat hat in Deutschland aber auch einen föderalistischen Unterton. Die Bundesländer gehen in der Bildungspolitik am liebsten ihre eigenen Wege. Die Bildung eines Kindes dürfte nicht davon abhängen, wo es zur Schule geht. Bei diesem Test hat Deutschland versagt.

© SZ vom 19.11.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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