Norbert Blüm zum Tag der Arbeit:"Bald sind wir wieder bei der Tagelöhnerei"

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Der frühere Arbeitsminister, seit 1949 Gewerkschafter, warnt vor der Ökonomisierung der Gesellschaft.

Interview: Jonas Viering

Wie kaum ein anderer hat Norbert Blüm Erfahrung mit Gewerkschaften. Mit 14 Jahren trat er 1949 in die IG Metall ein. Als CDU- Arbeitsminister unter Kanzler Helmut Kohl war er dann 1982 bis 1998 erbittert bekämpfter Gegenpart der Gewerkschaften. Oft wird Blüm ein "Herz-Jesu-Marxist" genannt. Den Tag der Arbeit mag er nicht.

SZ: Am Tag der Arbeit entstauben die Gewerkschaften ihre roten Fahnen und ziehen auf die Straße. Ist der 1. Mai ein langweiliger Tag?

Blüm: Aufregend ist er jedenfalls nicht. Ich bin aber vor allem gegen diese Häppchen-Kultur: Tag des Baumes, Tag des Kindes, Tag der Arbeit.

SZ: Ist das für Sie nur noch Proletarier-Folklore?

Blüm: So ein Feiertag kann zum Alibi werden - wie bei den Kirchen, die nur zu Weihnachten voll sind. Mit dem Unterschied, dass die Mai-Kundgebungsplätze von Jahr zu Jahr leerer werden. Einer redet und zehntausend klatschen - diese Form ist auch nicht mehr zeitgemäß.

SZ: Sagen Sie das als einer, der seit 54 Jahren in der IG Metall ist, oder als CDU-Mann, der 16 Jahre Minister war?

Blüm: Dieses Kästchen-Denken mag ich nicht. Aber als Arbeitsminister war der 1. Mai nicht immer lustig. Als ich mal mit Trillern zum Schweigen gebracht werden sollte, hab ich einem in der ersten Reihe gesagt: Gib die Pfeif' her, die hab ich mit meinen Gewerkschaftsbeiträgen bezahlt! Aber Spaß beiseite: Wir brauchen starke Gewerkschaften.

SZ: Warum?

Blüm: Ich habe früher gegen die Vergesellschaftung der Wirtschaft gekämpft. Heute muss man sich gegen die Verwirtschaftung der Gesellschaft wehren. Solidarität statt Egotrip - die Trunkenen der Neuen Ökonomie mit der Mär der unendlichen Reichtumsvermehrung sind doch längst mit einem bösen Kater aufgewacht und haben gemerkt, dass ein Betriebsrat vielleicht doch nichts Schlechtes ist. Die neue heilige Dreifaltigkeit aus Privatisierung, Liberalisierung, Flexibilisierung schafft nicht die Lösung aller Probleme. Marktwirtschaft ist auf Sozialordnung angewiesen.

SZ: Zum Beispiel?

Blüm: Nehmen wir die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen: Schon heute haben wir sieben Millionen Arbeitsplatzwechsel im Jahr. Wenn man das weiter treibt, sind wir wieder bei der Tagelöhnerei - da haben die Beschäftigten überhaupt keine Loyalität mehr zum Betrieb, und die braucht es doch gerade in der Krise. Jetzt will manch einer Tarifverträge mit den Betriebsräten abschließen statt mit den Gewerkschaften. Da sage ich: Da muss man den Betriebsräten auch das Streikrecht einräumen. Viel Spaß beim Häuserkampf.

SZ: Sie stellen sich hier gegen die Pläne Ihrer eigenen Partei?

Blüm: Wenn's sein muss: Ja!

SZ: Die Gewerkschaften wollen am Tag der Arbeit vor allem gegen die Politik der SPD-Regierung demonstrieren.

Blüm: Die macht ja auch eine teils zynische Politik. Personal-Service-Agenturen, Ich-AGs, - mit solchem Wortgeklingel kann man die Welt nicht ändern. Die Ich-AG ist nur legalisierte Schwarzarbeit. Die Agenturen können keine neuen Jobs schaffen. Und ein alter Arbeitsloser, dem jetzt das Geld gekürzt wird, hat einfach wenig Chancen auf dem Markt. Im Übrigen haben die Älteren in der Regel länger Beiträge bezahlt als die Jüngeren. Oder das Krankengeld: Als ich die Lohnfortzahlung bei Krankheit um ein Weniges einschränken wollte, was vornehmlich die Kurzzeit-Kranken betraf, war ich der Arbeiterverräter. Beim Krankengeld geht es nun aber ausgerechnet gegen Langzeitkranke, die mit Krebs zum Beispiel. Da müssen die Gewerkschaften nun wirklich aufstehen. Von mir aus auch am 1. Mai, aber bitte nicht bloß an diesem Tag.

SZ: Meinen Sie wirklich, die Gewerkschaften haben in allem Recht?

Blüm: Nein, die von den Gewerkschaften bekämpfte Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Beispiel finde ich richtig. Die spart Bürokratie, und die ganz kleinen Einkommen werden nicht schlechter gestellt, weil bei denen immer schon die Arbeitslosenhilfe sogar niedriger war als die Sozialhilfe. Vor allem gibt es bei den Gewerkschaften selbst riesigen Reformbedarf: Der DGB ist ein Dach ohne Mauern drunter, sein Vorsitzender ein Frühstücksdirektor. Fusionen wie die zu Verdi sind allein vom Willen zum Großen getragen. Und Verdi selbst hat durch die Fusion an Bodenhaftung verloren - ein Kanalarbeiter und ein Banker haben einfach nicht genug gemeinsam.

SZ: Bei den Mai-Demos wird aber nicht bloß der Zusammenhalt von denen im Blaumann und denen im weißen Kragen, sondern sogar die internationale Solidarität hoch gehalten?

Blüm: Das ist auch wichtig. Nur erschöpft sich der Internationalismus der Gewerkschaften meist in machtvollen Reden. Dabei bräuchte es dringend grenzüberschreitende Tarifverträge und länderübergreifende Konzernbetriebsräte. Das Kapital ist doch längst international.

SZ: Vom Protest gegen die Regierungs-Reformen erhofft sich der DGB eine Wiederbelebung des siechen 1. Mai.

Blüm: Da zweifle ich dran. Richtig aber ist: Das Gefühl wächst, dass es wieder um Gerechtigkeit und Solidarität gehen muss.

SZ: Wie hat sich der Tag der Arbeit denn seit Ihrem Gewerkschafts-Eintritt 1949 verändert?

Blüm: In den 50er Jahren ging es um recht einheitliche Arbeitnehmer-Interessen. Die Arbeitswelt hat sich aber drastisch verändert. Der Name des Fortschritts lautet heute nicht mehr Gleichheit, sondern Differenzierung. Das müssen die Gewerkschaften begreifen - sonst begreift sie keiner mehr. Nur eignet sich derlei leider nicht für 1.-Mai-Parolen.

SZ: Wann sind Sie selbst zuletzt am Tag der Arbeit hinter roten Fahnen hergelaufen?

Blüm: Ach, fast jedes Jahr.

SZ: Warum, wenn Sie doch von dem Tag so wenig halten?

Blüm: Warum wohl? Aus Tradition natürlich. Trotz allem.

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