Nach der Grundschule:Zum Versager abgestempelt

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Eltern wollen nur das Beste für ihren Nachwuchs: das Abitur. Doch der wachsende Druck in den ersten Schuljahren macht Kinder krank.

Birgit Taffertshofer

Seit den Ferien ist alles anders. "Die ganze Angst ist weg", sagt Lisa*, zehn Jahre alt, "jetzt ist es egal, wie gut man ist". Zum Schulbeginn am Montag weiß jeder Schüler in der vierten Klasse, wohin er gehört. Nach oben oder nach unten, aufs Gymnasium oder in die Hauptschule.

In Lisas Klasse haben es fast alle geschafft. Sie dürfen aufs Gymnasium oder zumindest in die Realschule. Die einen, weil sie in Deutsch, Rechnen und Sachkunde den notwendigen Schnitt von 2,33 beziehungsweise 2,66 erreicht haben. Die anderen, weil sie vor den Ferien den Probeunterricht bestanden haben - wie Lisa.

Der Rest muss in die Hauptschule. "In unserer Klasse hat`s nur Bernd* erwischt", sagt Lisa - dabei hatte seine Mutter doch so viel mit ihm gelernt.

Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind: das Abitur. Daher sind sie zu Expertinnen der Noten-Überwachung geworden. Sie wissen genau, dass Rechtschreibfehler in Sachkunde-Tests nicht zählen und dass bei Aufsätzen ein guter Ausdruck mit einem Pünktchen am Heftrand gelobt werden muss. Sie wissen auch, dass ein schulpsychologisches Gutachten einen Bonus bei der Bewertung gibt und welche Schule im Umkreis am großzügigsten Übertrittszeugnisse verteilt.

Um ihrem Kind das Abitur zu ermöglichen, fahren Eltern in Bayern noch in der Grundschule ein geballtes Hilfsangebot auf: Nachhilfe, Intelligenztests, Entspannungsübungen, Lerntechnikkurs oder Psychotherapie gegen die Teilleistungsschwäche.

Eltern entwickeln sich zu Schulmanagern, Karriereberatern, Hilfslehrern und Psychostützen. "Die Mama sitzt immer daneben" , sagt Karin Bergfeld, Grundschulleiterin am Starnberger See, "so wird um jede Zehntel Stelle hinter dem Komma gekämpft."

Notfalls auch mit härteren Mitteln: Mobbing gegen Lehrer, Beschwerden ans Ministerium, Prozess-Androhungen, Schulabmeldungen und getürkte Gastschulanträge - in Bergfelds Schule eröffnen Eltern jedes Jahr solche "Nebenkriegsschauplätze", wie sie selbst sagt.

Kinder leiden unter der frühen Auslese

Der Druck überträgt sich natürlich auf die Kinder. Sie fühlen sich als Versager, leiden unter fehlender Motivation und Konzentrationsschwierigkeiten, erklärt Hans-Jürgen Tölle, Leiter des schulpsychologischen Dienstes in München. 8500 Familien suchen jährlich bei ihm und seinen Kollegen Rat. Die meisten von ihnen in der Zeit des Übertritts aufs Gymnasium oder in die Realschule.

Vielen Eltern scheint es so, als ob sich genau jetzt die späteren Lebenschancen des Kindes entscheiden. Doch beim Trimmen auf gute Noten bleibt die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit und Talente oft auf der Strecke.

Schuld seien aber nicht die besorgten Eltern, sondern vielmehr das Schulsystem, betont Tölle: "Die frühe Auslese ist unmenschlich und pädagogisch nicht zu verantworten." Vier Jahre Grundschule seien für die Kinder zu kurz, um ihre Fähigkeiten zu entdecken. Schlechte Noten könnten je nach Entwicklungsstand und Lebenssituation des Schülers nur ein vorübergehendes Phänomen sein.

Nur die Hälfte schafft den Probeunterricht

Jene Eltern, die sich der Macht der Noten sowie dem Urteil der Lehrkraft nicht beugen wollen, müssen ihre Kinder zum Probeunterricht anmelden. Offiziell heißt es Probeunterricht, aber letzten Endes ist es doch nur ein Test.

Da sollen zehnjährige Grundschüler zum Beispiel wissen, welche Zahl die kleinste fünfstellige Zahl ist, die aus lauter verschiedenen Ziffern besteht. Oder sie dürfen bei einem Diktat mit etwa 70 Wörtern allenfalls 3 bis 4 Fehler machen, um in dieser Disziplin noch eine 3 zu erreichen.

Laut Kultusministerium schaffen das Aufnahmeverfahren zum Gymnasium etwa die Hälfte der Schüler. Antreten dürfen nicht nur Viertklässler, sondern auch Nachzügler aus der 5. und 6. Jahrgangsstufe. Alleine 18.000 Schüler haben 2005 am Probeunterricht für die Realschule teilgenommen, von ihnen waren nur knapp 30 Prozent erfolgreich.

Die zehnjährigen Kinder seien mit der Prüfungssituation "völlig überfordert", kritisiert der Psychologe. Sie wirkten oft eingeschüchtert und hätten große Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein. Der Druck vor dem Übertritt werde aber noch zunehmen, glaubt Tölle - wegen der immer früheren Einschulung in Bayern und den Anforderungen des achtstufigen Gymnasiums (G8).

Mittlerweile stehen Schulpsychologen mit ihrer Kritik nicht mehr alleine da. Nach einer neuen Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung fordern inzwischen mehr als die Hälfte der Lehrer eine längere gemeinsame Schulzeit der Kinder und ein durchlässigeres Schulsystem.

Kultusminister Siegfried Schneider bleibt dennoch dabei: Er lehnt eine längere gemeinsame Grundschulzeit ab. Eine Debatte über eine Reform des Schulsystems lasse sinnlos Energien verpuffen, "die in den Schulen dringend gebraucht werden", sagt der CSU-Politiker.

Bergfeld hat wenig Hoffnung, dass die Politik doch noch auf den Hilfeschrei der Lehrer und Psychologen reagiert: "Solange die Eltern nicht auf die Straße gehen, wird sich nichts ändern", sagt sie und fügt hinzu: "Ich wundere mich nur, dass sie das nicht schon lange getan haben."

(* Namen von der Redaktion geändert)

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