Mehr als ein Job:Das multiple Personal

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Ein Arbeitsplatz ist nicht genug: Warum sich immer mehr Menschen als Mehrfach-Jobber durchschlagen.

Von Jeannette Goddar

Wenn Kathrin Kramer die Haustür öffnet, bringen ihre Kinder manchmal durcheinander, wo sie gerade herkommt. "Wie war's im Blumenladen?", fragen sie dann, obwohl doch Sonntag ist und ihre Mutter sonntags nicht Blumen bindet, sondern Benzin-Quittungen ausgibt. Und wenn die 42-Jährige abends aus dem Haus geht, bekommen die beiden Mädchen das manchmal gar nicht mit, weil sie schon schlafen. Zwei bis drei Mal pro Woche putzt Kathrin Kramer nachts im Ärztehaus. Dort verdient sie, was ihre Jobs als Verkäuferin und Kassiererin nicht einbringen.

Jedes Mal, wenn einer der Jobs wegbricht, ist die Existenz nicht mehr gesichert - Reinigungskraft am Münchner Flughafen (Foto: Foto: dpa)

Kathrin Kramer (Name geändert) ist eine Multi-Jobberin. Vormittags schneidet und verkauft sie Blumen - für knapp sechs Euro netto pro Stunde. Von den 500 Euro, die sie dafür monatlich bekommt, zahlt sie Miete, Strom und Telefon. Wenn sie mit ihren Kindern Hausaufgaben gemacht und sie ins Bett gebracht hat, geht sie für fünf Euro pro Stunde putzen. Am Wochenende, wenn die Kinder bei ihrem Vater sind, kassiert sie als Minijobberin in einer Tankstelle, hier verdient sie ein paar Cent mehr pro Stunde.

Mit allen drei Jobs sichert sie sich und den Kindern die Existenz, immer in der Hoffung, dass weder die Miete erhöht wird noch etwas Unerwartetes eintritt. "Ein vierter Job würde mich verrückt machen", sagt die Ostberlinerin, "ich weiß schon jetzt oft nicht, wo mir der Kopf steht." Nach vier Jahren als multiple Jobberin, erzählt Kramer, denke sie sehnsüchtig an Zeiten zurück, als ihr Selbstmanagement weniger komplex war.

Mini-, Teilzeit- oder Dauerjobber

Kathrin Kramer hat durchaus einen Beruf gelernt und auch fünf Jahre in ihm gearbeitet. Erst nach einer mehrjährigen Babypause fand die Fernmeldeelektronikerin keinen neuen Arbeitgeber mehr. Das Arbeitsamt finanzierte ihr eine Umschulung zur Fachkraft für Rechnungswesen und Buchführung, 18 Monate lang. Eine Stelle bekam sie auch damit nicht. Ein paar Jahre lebte sie von Sozialhilfe. Als eine befreundete Floristin ihr eine Teilzeitstelle anbot, griff sie zu.

Wie viele Menschen in Deutschland Mehrfachjobber sind, wird nirgendwo erfasst. Bekannt ist aber, dass ungefähr 19 Millionen Bundesbürger in so genannten "prekären Arbeitsverhältnissen" ohne dauerhaften Vertrag arbeiten. Sie sind Mini-, Teilzeit- oder Dauerjobber, Ich-AG-ler oder Zeitarbeiter. Ein großer Teil von ihnen ist im "Niedriglohnsektor" beschäftigt - und verdient in aller Regel weit unter zehn Euro pro Stunde. Im Gastronomiegewerbe sowie bei Wachschutz und Sicherheitsfirmen sind auch Stundenlöhne unter fünf Euro brutto keine Seltenheit.

Einen umfangreichen Niedriglohnsektor gibt es nicht erst seit Verabschiedung von Hartz I, II, III und IV. Bereits 1997, hat das wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung herausgefunden, haben 6,3 Millionen Menschen in den alten Bundesländern Niedriglöhne erhalten. 4,2 Millionen oder 24 Prozent der Vollzeitbeschäftigten haben schon damals einen so genannten "Prekärlohn" zwischen 50 und 75 Prozent des Durchschnittseinkommens bekommen. 2,1 Millionen oder zwölf Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiteten für einen "Armutslohn" von unter fünfzig Prozent des Durchschnittsgehalts.

Mit den Hartz-Reformen vom abgabenfreien Minijob bis zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe soll der Niedriglohnsektor noch einmal kräftig Auftrieb erhalten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet mit bis zu zwei Millionen neuen Jobs im unteren Lohnsegment. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg erhofft sich von einer "behutsamen Lohn-Spreizung nach unten" die "umfangreiche Erschließung" eines "niedrigproduktiven Beschäftigungssektors".

Arm bei vollem Arbeitseinsatz

Vorbild dieser Erschließung sind die USA. Dort wurden unter anderem als Folge von Sozialreformen binnen fünf Jahren zehn Millionen Arbeitsplätze geschaffen - darunter bis zu zwei Drittel zu unterdurchschnittlicher Bezahlung. 20 Prozent der US-Amerikaner verdienen inzwischen mit ihrem "Hauptjob" unter Sozialhilfeniveau - und sind auf Nebenerwerbe angewiesen. "Working Poor" heißt dieses Phänomen, das besagt, dass man trotz einer 40-Stunden-Woche unter der Armutsgrenze bleibt.

In Deutschland bekannt wurde "Working Poor" vor allem durch das gleichnamige Buch der US-Publizistin Barbara Ehrenreich. Ehrenreich begab sich - wie Günter Wallraff einst in Deutschland - auf eine Reise durch die Welt der Billigjobs. In ihrem Buch dokumentiert sie den Alltag von Menschen, die sich als multiple "McJobber" ohne soziale Absicherung für zweieinhalb Dollar pro Stunde abrackern.

Ganz so weit ist es in Deutschland noch nicht. Doch auch hier sind Mehrfachjobber ständig armutsgefährdet. Als arm gilt, wer unter 1200 Euro brutto - das ist die Hälfte des deutschen Durchschnittseinkommens - verdient. Der Weg dahin ist für Mehrfachjobber kurz. "Jedes Mal, wenn einer der Jobs wegbricht, ist die Existenz nicht mehr gesichert", sagt Gerd Mertens. "Mehrfachjobber leben in ständiger Angst vorm Absturz."

Keine Zeit für Klagen

Gerd Mertens ist Referent im Bistum Aachen und hat eine Dokumentation zum Thema "Arm trotz Arbeit" erstellt. Sein Fazit: "Immer mehr Menschen kombinieren verschiedene Jobs in völlig unterschiedlichen Bereichen." Was das Bistum Aachen bei der Recherche der Lebensläufe von Menschen, die trotz Einsatz ihrer vollen Arbeitskraft ihren Unterhalt kaum sichern können, feststellte: Gerade Mehrfachjobber sind kaum zu überreden, ihre finanzielle Lage offen zulegen. "Wer sich an drei oder vier Jobs durchs Leben schuftet, will nicht auch noch als arm dastehen", sagt Mertens.

Auch Kathrin Kramer hat sich mit ihrer Lage abgefunden. Arm, sagt sie, sei sie nicht, nur gerade etwas knapp bei Kasse. Zum letzten Mal im Urlaub an der polnischen Ostsee war sie vor fünf Jahren. Ein Jahr später hat sie zuletzt ein paar Freunde zum Geburtstagsessen zu sich nach Hause eingeladen. Jetzt hat sie für ein paar Monate noch eine zusätzliche Einnahmequelle aufgetrieben. Ein Pharma-Unternehmen sucht Frauen ab 35 Jahre für einen Medikamentenversuch. 50 Euro extra im Monat.

© SZ vom 6.12.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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