Leistungsdruck:Tatort Arbeitsplatz

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"Sozialpolitischer Rinderwahnsinn": Die Gewerkschaften entdecken den Psychostress am Arbeitsplatz.

Von Dagmar Deckstein

Ein neues Thema wartet nur darauf, von der IG Metall im besonderen und von den Gewerkschaften im allgemeinen entdeckt zu werden: Gesundheit. Für viele Arbeitnehmer ist dies vielleicht noch wichtiger, oder könnte es noch werden, als die Frage von Lohnerhöhungen. So hat sich der IG Metall-Bezirk Baden-Württemberg - seit langem immer wieder Pilotbezirk bei Tariffragen - wieder an die Spitze einer neuen Gewerkschaftsbewegung begeben. Vor vier Jahren startete der Bezirk seine Kampagne "Tatort Betrieb" und nahm sich dabei speziell Gesundheitsfragen an.

Leiden, das sich in Geld umrechnen lässt: Experten warnen vor einem "betriebswirtschaftlichen Schaden ohne gleichen" durch kranke Mitarbeiter. (Foto: Foto: John Foxx)

Das Resumee der Kampagne: Nicht nur mit dem Geld der Arbeitnehmer in deutschen Unternehmen ist es nach Jahren der Lohnzurückhaltung schlechter bestellt. Geradezu katastrophal steht es um die Seele des Humankapitals in den Betrieben. Für IG-Metallbezirksleiter Jörg Hofmann steht fest: "Ein Thema, das vor zehn Jahren überhaupt nur ein Exoten-Thema war, ist nun ein Thema, das in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wird." In zunächst 50 Betrieben Baden-Württembergs wurde im Verlauf der Kampagne die so genannte Gefährdung individuell beurteilt. Experten nahmen mit den Beschäftigten physische und vor allem psychische Belastungen in Werkshallen und Büros unter die Lupe.

Zum Beispiel auch bei der Firma Alstom Power in Mannheim. Betriebsrat Wolfgang Alles spricht von einem "sozialpolitischen Rinderwahnsinn", den eine Gesellschaft in Kauf nehme, wenn sie die arbeitenden Menschen nach wie vor als gut geölte Maschinen betrachte. Leistungsdruck, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Ignoranz der Vorgesetzten - das sind nur die größten Stressoren, die in den Mitarbeiterbefragungen der IG Metall zutage traten. "Dass viele Beschäftigte so früh wie möglich raus wollen aus der Tretmühle, ist ein schlimmes Zeichen", klagt Alles. Zumal in Zeiten, das sich die Menschen auf längere Lebensarbeitszeiten und die Betriebe auf alternde Belegschaften einstellen müssen.

Schlimmer noch: Psychische Belastungen am Arbeitsplatz sind in den renditeorientierten Unternehmen Innovations- und Produktivitätskiller Nummer eins. Sie zu ignorieren gleicht einer immensen Ressourcenverschwendung. Tina Gräfin Vitzthum von der Unternehmensberatung Gallup, die das Metaller-Projekt begleitet hat, spricht angesichts der massenhaften inneren Kündigungen deutscher Arbeitnehmer von einem "betriebswirtschaftlichen Schaden ohne gleichen", den Manager sehenden Auges anrichteten.

Scheu vor dem Tabubruch

Die Zahlen der mittlerweile dritten Gallup-Umfrage unter Beschäftigten in Deutschland sprechen für sich: Nur zwölf Prozent der Mitarbeiter sind emotional an ihre Unternehmen gebunden, 70 Prozent machen Dienst nach Vorschrift und 18 Prozent haben bereits innerlich gekündigt. Für IG-Metall-Bezirksleiter Jörg Hofmann erscheinen da auch die Debatten und jüngsten Vereinbarungen über längere Arbeitszeiten in den Betrieben in einem etwas anderen Licht: "Da wird so getan, als ob einer, der hundert Meter in neun Sekunden läuft, tausend Meter in 90 Sekunden laufen könne. Das ist aber ein großer Irrtum."

Psychostress am Arbeitsplatz - eine der größten Hürden für die Metaller in den Betrieben war es, die "große Scheu der Kollegen" vor diesem Tabubruch zu überwinden. So kam auch eine 2000 vorgelegte Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu der Erkenntnis, dass allein in Europa 37 Millionen Menschen an beschäftigungsbedingten Depressionen leiden, aber dass die Hälfte davon aus Scham und Angst vor Stigmatisierung darüber schweige und nichts unternehme. Das koste in Europa mehr als 60 Milliarden Euro im Jahr an krankheitsbedingten Ausfällen.

© SZ vom 4.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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