Kommentar zur Bildungsreform:Warum getrennt verblöden?

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Unser dreigliedriges Schulsystem ist ungerecht und ineffizient. Mit Einführung einer Einheitsschule würde die Idee einer gemeinsamen Bildung zurückkehren. Ein Kommentar von Jens Bisky.

Ein Schulsystem, in dem die Kinder neun oder zehn Jahre zusammenbleiben und dennoch individuell gefördert werden, eine Schule für alle also, die jedem gerecht wird, hat Krista Sager von den Grünen gefordert. Frau Sager, entgegnete unverzüglich der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, solle doch die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Was sie sage, sei "schöne Lyrik".

Da fragt man sich, welche Gedichte Herr Kraus liest. Dass ein politisch aktiver Gymnasiallehrer "schöne Lyrik" offenbar für etwas Lebensfremdes, wenig Durchdachtes hält, für etwas, das in der Diskussion über Schulen nichts zu suchen hat, verrät einiges über das Elend der deutschen Bildungsanstalten. Unterwerfung unter harte Notwendigkeiten zählt da mehr als Enthusiasmus.

Die Frage nach einer Neuordnung des Schulsystems, in den Demagogenkriegen der siebziger Jahre umfassend zerredet, wird uns weiter begleiten. Ist es gerecht und sinnvoll, die Bildungskarrieren der Kinder schon in jungen Jahren zu sortieren, auch wenn dies für viele bedeutet, dass ihnen nur wenig Bildung und kaum Karrierechancen geboten werden?

Wer mit Hauptschülern in den Problembezirken großer Städte spricht, wird rasch erfahren, dass sie sich dauerhaft ausgemustert fühlen. Zudem sind die Übergänge zwischen den Schultypen hauptsächlich als Abstieg organisiert.

Rasch kann es geschehen, dass ein Gymnasiast, von Familienkrisen überfordert oder tatsächlich faul, an eine Realschule verwiesen oder - wie Robert Steinhäuser - ohne Abschluss entlassen wird. Ein Hauptschüler dagegen, der das Abitur nachholen will, wird mehr Anstrengung aufbringen, mehr leisten müssen als manche Studenten.

Unser dreigliedriges Schulsystem nebst Gesamtschulen ist ungerecht und ineffizient. Zu den Ärgernissen, die dank der PISA-Studie endlich zur Kenntnis genommen worden sind, gehörte doch vor allem, dass in Deutschland die Herkunft über Bildungschancen und Karrieren entscheidet.

Der Aufstieg durch Bildung ist in den vergangenen dreißig Jahren zu einer Ausnahmeerscheinung geworden. Für die Atmosphäre im Land und für den Zustand der Eliten hatte und hat das verhängnisvolle Folgen. Das verbreitete Gefühl der Lähmung und die regierende Unfähigkeit, auf Veränderungen rasch zu reagieren, dürften auch darin ihre Ursachen haben.

Man lernt mit seinesgleichen

Im Alter von zehn oder elf Jahren haben Schüler die Welt aus Wort und Zahl gerade kennen gelernt und beginnen zu ahnen, wie viele Kontinente des Wissens es gibt. Vier Jahre reichen kaum aus, Unterschiede der Herkunft auszugleichen.

Die frühe Selektion führt dazu, dass die verschiedenen Milieus weitgehend unter sich bleiben. Man geht mit seinesgleichen zur Schule. Die Tochter des Sozialkundelehrers, die daheim unter fünfhundert Büchern wählen kann, und der Sohn des türkischen Kleingewerbetreibenden, der keine Bücher, aber einen Gameboy besitzt, bleiben in getrennten Welten. Das Kind von Spätaussiedlern hat zu deutschen Kindern seines Alters kaum Kontakt.

Politik für die "bildungsfernen" Unterschichten, in deren Namen heute so viele auftreten, ist eben nicht nur eine Frage von Zahlungen und Freibeträgen, sondern eine kulturelle Aufgabe. Die Bundesrepublik fällt im internationalen Vergleich auch deshalb zurück, weil sie dieser Aufgabe seit Beginn der neunziger Jahre erfolgreich ausweicht.

Dass die Schule keine Agentur der Sozialpolitik sein dürfe, dass Gleichmacherei verheerend sei, wird gegen die Pläne einer "Schule für alle" immer wieder angeführt. Beides ist richtig, aber nur halb. Es gehört zur Idee von Bildung, dass sie alle Schranken, außer diejenigen der Begabung, durchbricht, dass in ihrem Reich Herkunft und Einkommen nicht gelten.

Die Starre des dreigliedrigen Systems und die frühe Auswahl vernichten nicht allein individuelle Lebenschancen, sondern Intelligenz und Einfallsreichtum, die allen zugute kommen könnten.

Im gemeinsamen Unterricht aller Kinder muss, wie die Erfahrungen in skandinavischen Ländern zeigen, nicht die Gleichmacherei triumphieren, der Unbegabte triumphieren. So wie Großstädte ihren Reiz und ihre Lebendigkeit aus der Vielfalt der Lebensformen gewinnen, könnten Schulen von der Unterschiedlichkeit ihrer Schüler profitieren.

Die Plädoyers für eine rasche Einführung der Einheitsschule wirken dennoch naiv. Vieles scheint kaum bedacht. Wie lange etwa sollen unsere Kinder gemeinsam unterrichtet werden? Zehn Jahre dürften zu lang werden.

Im Alter von fünfzehn sollte jeder die Möglichkeit haben, sich gründlich und angemessen auf ein Studium vorzubereiten - oder auf eine Lehre. Wer die Schüler zehn Jahre in einer Schule zusammensperrt, dürfte den Universitäten Probleme aufbürden, die diese nicht lösen können.

Selbstverständlich ist mit der Einführung der Einheitsschule keines der Probleme gelöst, sie stellen sich nur auf andere Weise. Es müsste, z.B., dafür gesorgt sein, dass jeder Zwölfjährige, fließend und richtig deutsch spricht. Wenn die drei in einer Klasse, die nur mit Mühe lesen können, die zwei sprachlich Hochbegabten dauerhaft hemmen, werden verantwortungsvolle Eltern nach Auswegen suchen.

Wie vermeidet man, dass alle sich auf die Mitte einigen, auf jene Leistung, die der Schwächste gerade noch schafft, der Stärkste aber mit links erledigt? Orientierung am Mittelmaß läuft der Idee von Bildung ebenso zuwider wie die zu frühe Festlegung auf ein bestimmtes Niveau.

Eine Einigung ist unwahrscheinlich: Bildung ist Ländersache

In größeren Städten würden die Einheitsschulen sich je nach Lage stark unterscheiden. Es gäbe eben nicht eine Schule für alle, sondern die Einheitsschule für betuchte Zehlendorfer hier, und die Schule in Berlin-Wedding mit hohem Ausländeranteil und geringem Einkommen der Eltern dort.

In den USA ist der Ruf der Schule für Eltern zu Recht ausschlaggebend in der Wahl des Wohnviertels. Auch hierzulande würde die Einheitsschule keine Einheitlichkeit hervorbringen, sondern die Unterschiede anders organisieren.

Sie täte es allerdings auf bessere Weise als gegenwärtig das dreigliedrige Schulsystem in Konkurrenz zu den höchst verschiedenartigen Gesamtschulen, die eben deshalb keine Gesamtschulen sind, weil sie mit anderen Schultypen konkurrieren.

Mit Einführung der Einheitsschule würde die Idee einer gemeinsamen Bildung für alle, die lange Zeit wenig mehr als ideologischer Restmüll war, in die deutsche Bildungspolitik zurückkehren.

Formuliert wäre damit eher eine Aufgabe als eine Lösung. Dass es dazu kommt, mag man kaum glauben. Bildung ist Ländersache. Dass Bayern und Brandenburger sich da einigen, wo es doch lediglich um die Zukunft des Landes insgesamt geht, scheint wenig wahrscheinlich.

Es würde eine gemeinsame Idee von Gemeinwohl voraussetzen und eine Vorstellung davon, dass Bildung wenig mehr ist als die Einübung von Freiheit, ein Training in sachkundigem Urteil und innerer Ungebundenheit.

Vorgeschlagen aber wird die Einheitsschule, weil viele von ihr bessere Kennzahlen und Wettbewerbsplätze erhoffen. So scheint dafür gesorgt, dass der Enthusiasmus, den Josef Kraus Krista Sager vorwirft, der deutschen Bildungsdebatte verlässlich fremd bleibt.

© Süddeutsche Zeitung vom 16.09.04 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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