Interview:Wieso hängen Ärzte am Bereitschaftsdienst?

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Bei der LBK Hamburg leisten die Ärzte Schichtdienst statt Bereitschaft.

(SZ vom 27.9.2003) Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass Bereitschaftsdienst in Kliniken als volle Arbeitszeit gilt. Für das LBK Hamburg ist das kein Problem. Jeannette Goddar fragte den Arzt und Projektleiter Ulf Debacher, wie dort die Dienstpläne erstellt werden.

SZ: Seit 2001 haben Sie in Hamburg an einem Arbeitszeitmodell ohne Bereitschaftsdienste gearbeitet - ganz ohne Not und ohne EuGH-Urteil im Nacken. Wieso dieser Akt der Humanität?

Debacher: Mit Humanität hatte das weniger zu tun. Wir wollten unsere sieben Krankenhäuser mit immerhin 1450 Ärzten einem umfassenden Modernisierungsprozess unterziehen. Dabei stellten wir fest, dass die üblichen Dienstzeiten nicht mehr in den Arbeitsalltag passen.

SZ: Warum nicht?

Debacher: Um eine moderne Klinik mit all ihren Operationssälen und Großgeräten optimal zu nutzen, muss länger als acht Stunden am Tag gearbeitet werden. Das herkömmliche Modell geht aber davon aus, dass sich die Regelarbeitszeit auf die Stunden von acht bis halb fünf beschränkt - und in der übrigen Zeit nur das Nötigste erledigt wird. Das ist nicht nur unsinnig, sondern auch ineffizient.

SZ: Was machen Sie anders?

Debacher: Die Ärzte im Pilotprojekt arbeiten in elf Schichten unterschiedlicher Länge und zu unterschiedlichen Zeiten. So setzen wir das Personal variabel und flexibel ein, wo es gebraucht wird. Um herauszufinden, wann die meiste Arbeit anfällt und wo wir wie viele Mediziner benötigen, haben wir die Tagesabläufe der einzelnen Abteilungen über einen längeren Zeitraum analysiert.

SZ: Und was kostet das neue Modell?

Debacher: Nicht mehr als das alte. Mit dem Geld, das wir für die Dienste ausgegeben haben, wurden neue Stellen geschaffen. Die fehlenden Arbeitsstunden haben wir durch Umstrukturierungen ausgeglichen. Kleinere Abteilungen arbeiten nun zumindest nachts und am Wochenende fächerübergreifend, hier und dort wurde die Versorgung neu organisiert. In der Praxis heißt das zum Beispiel, dass Augen-Verletzte nicht mehr in allen sieben Notaufnahmen behandelt werden können, sondern notfalls in ein anderes Krankenhaus gebracht werden.

SZ: Waren die Ärzte froh, dass sie die nervenzehrenden 30-Stunden-Schichten endlich los sind?

Debacher: Das haben wir gehofft. Tatsächlich stellte sich aber heraus, dass der Widerstand enorm war. Anfangs wollte etwa die Hälfte der Kollegen nicht auf die Bereitschaftsdienste verzichten. Das hatte finanzielle Gründe, aber auch die Macht der Gewohnheit spielte eine Rolle. Ein Modell, das man seit den sechziger Jahren kennt, hat sich vielleicht nicht bewährt, aber man kennt es wenigstens.

SZ: Wie haben Sie die Ärzteschaft überzeugt?

Debacher: Wir haben in vielen persönlichen Gesprächen Überzeugungsarbeit geleistet. Noch wichtiger war aber vielleicht, dass es uns gelungen ist, gemeinsam mit Verdi und dem Personalrat zu einer Vereinbarung zu kommen, die es den Ärzten ermöglicht, fast genauso viel zu verdienen wie vorher: Wer will, darf bis zu 48 Stunden in der Woche arbeiten. Etwa jeder zehnte tut das.

SZ: Wie bewährt sich das Modell im Klinikalltag?

Debacher: Sehr gut. Auch die Chefärzte sind zufrieden, weil ihr Personal nicht mehr jeden fünften Tag zwecks Freizeitausgleich zuhause ist, sondern kontinuierlich zu festen Zeiten auf Station ist. Und die allermeisten Ärzte arbeiten besser organisiert und stehen weniger unter Druck. Eine Kollegin sagte neulich zu mir: "Seit ich weiß, dass ich nach spätestens zehn Stunden wieder nach Hause gehen kann, komme ich viel motivierter zur Arbeit."

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