Ich-AG:Erfolgreich in den Sand gesetzt

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Wundermittel gegen die Arbeitslosigkeit oder Geldverschwendung: Wie steht es um die Ich-AG? Das Beispiel einer Berliner Unternehmerin, wie Peter Hartz sie sich vorgestellt haben mag.

Von Nina Bovensiepen

Berlin, im September - Es ist noch schön geworden an diesem späten Nachmittag in Berlin, und die Wärme hat Abgeordnete und Touristen an das Stückchen Strand im Regierungsviertel getrieben. Die roten Sonnenliegen und die Strandkörbe mit der Aufschrift "Füße hoch, Abgaben runter" sind allesamt besetzt, Bier verkauft sich gut. Johanna Ismayr ist erschöpft. Solche Tage sind zwar gut fürs Geschäft, aber anstrengend. Außerdem gibt es schon wieder Ärger um ihren Bundespressestrand, einen hauptstädtischen Biergarten, nicht weit entfernt vom Reichstag gelegen.

Johanna Ismayr kommt deshalb gerade vom Anwalt. Sie zieht ein Fax des Bezirksamts Mitte aus der Tasche. Das Schreiben widmet sich auf zwei Seiten den Müllcontainern der Bar. Diese beeinträchtigten die Sicht auf das Paul-Löbe-Haus, eines der Abgeordneten-Gebäude, monieren die Beamten. Zudem könnte der Inhalt für Mäuse attraktiv sein. Weiter werden die Schilder eines Sponsors bemängelt, auf denen vom Berliner Haushaltsloch zu lesen ist - weil sie "nicht nur inhaltlich falsch sind, sondern zudem auf öffentlichem Straßenland stehen". Johanna Ismayr regt das auf: "Wir zahlen Steuern, dass es kracht, bringen 30 bis 40 Leute über den Sommer in einem Job, und die Verwaltungsbeamten würden die Bude am liebsten dichtmachen."

Unternehmersorgen. Für die 33-Jährige sind sie neu. Gut ein Jahr ist es her, dass Johanna Ismayr den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt hat - als Gründerin einer Ich-AG, die der Arbeitsmarktreformer Peter Hartz als Wundermittel gegen die Arbeitslosigkeit erdacht hat.

Das unter dem Kürzel Hartz II laufende Programm beruht auf einer simplen Idee: Arbeitslose erhalten Geld vom Staat, das aus ihnen Selbstständige machen soll. Maximal drei Jahre lang wird die Förderung gewährt, im ersten Jahr gibt es 600 Euro pro Monat, im zweiten 360 und im dritten 240. Danach, so die Hoffnung, haben sich die Kleinunternehmen etabliert, und es gibt je einen Arbeitslosen weniger. Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Harald Schartau (SPD) lobt das Modell als "Initialzündung für den Schritt in die Selbstständigkeit".

Heiler und Hundecoacher

Johanna Ismayr hatte nach einer Babypause festgestellt, dass es schwierig war, in ihrem Beruf als Journalistin nebenbei zu arbeiten. Etwas tun wollte sie trotzdem. Die Idee für den Bundespressestrand kam ihr mit früheren Kollegen. "Allen ging es auf die Nerven, dass Veranstaltungen hier immer in irgendwelchen schicken Hotels stattfinden, weil es keine netten Plätze gibt." Also suchte sie danach und fand den Standort am Spreeufer. Bevor sie ihre Ich-AG im Juni 2003 anmeldete und die Eröffnung ihrer Sommerbar in Angriff nahm, führte sie darum einen Kampf mit den Behörden, sammelte Geld bei Sponsoren ein, schrieb ein Konzept und suchte Bekannte zum Mitmachen. Als es losging, hatte sie sich bei Freunden und Familie mit 50.000 Euro verschuldet. Über die 600 Euro im Monat vom Staat war sie froh. "Ich dachte mir, wenn's ständig regnet, hast du wenigstens die Krankenkasse bezahlt."

Die Angst war unbegründet. Erstens regnete es kaum im Sommer 2003, außerdem hatte Johanna Ismayr offensichtlich das richtige Gespür gehabt. Die Sommerbar, die mit dem aufgeschütteten Sand aus einem Brandenburger Kieswerk und der Aussicht auf die Ausflugsschiffe mitten in der hektischen Hauptstadt Strandatmosphäre vermittelt, wurde ein voller Erfolg - als Treffpunkt für Abgeordnete, als Ruhepunkt für Touristen, als Veranstaltungsort für die Karibik-Party von Bacardi oder für Pressegespräche von Verbänden und Politikern.

Als der Bundespressestrand in diesem Jahr auf der anderen Spreeuferseite an einem größeren Standort an Pfingsten wieder öffnete, kamen fast 3000 Gäste. "Zum Glück war das Wetter nicht so gut, sonst hätten die uns totgetreten", sagt Johanna Ismayr. Sie hat inzwischen ihre Ich AG abgemeldet. "Das Geld ist für Leute gedacht, die es nötig haben, und das habe ich nicht mehr", sagt sie. Vermutlich hätte sie die Förderung auch gar nicht mehr bekommen. "Ich verdiene zu viel."

Bis zu 25.000 Euro im Jahr darf das Einkommen einer Ich-AG betragen. Als die Regierung die Ideen von Peter Hartz umsetzte, wollte sie es den Arbeitslosen möglichst leicht machen. Deshalb wurde jedem ein Anspruch auf Förderung eingeräumt - ohne Nachweis, wie sinnvoll oder zukunftsfähig eine Idee ist. Kritiker wie der CSU-Arbeitsmarktexperte Johannes Singhammer geißelten die Zuschüsse für die Ich-AGs deshalb als "Arbeitslosengeld de luxe" und prangerten eine gigantische Geldverschwendung an. Tatsächlich spross manch seltsame Blüte: Vom Hundecoaching über das Event-Management bis zum Wunderheilen wurde jede noch so abenteuerliche und manchmal nicht wirklich ernst gemeinte Geschäftsidee bezuschusst, wie die Bundesagentur für Arbeit einräumt.

Auf die Kritik hat die Regierung vor kurzem reagiert und die Vorschriften für die Ich-AGs verschärft. Künftig muss jeder Arbeitslose eine so genannte Tragfähigkeitsbescheinigung vorlegen. Soll heißen: Die Gründungswilligen müssen eine Kurzbeschreibung ihrer Idee, einen Finanzierungsplan sowie eine Umsatzprognose präsentieren, die die Arbeitsagenturen prüfen - erst dann fließt das Geld. Bestehen Zweifel an dem Projekt, kann der Zuschuss auch zeitlich begrenzt werden. Mit diesen Regeln sei dem Missbrauch ein Riegel vorgeschoben, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.

Den Gegnern der Ich-AGs geht das indes nicht weit genug. Dieter Philipp, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, bemängelt, die Korrekturen seien nur "Pro-Forma-Regelungen". Aus den Steuern klein- und mittelständischer Betriebe werde die Dumping-Konkurrenz finanziert, sagt Philipp und fordert weiter die Abschaffung der Ich-AGs. Befürworter der Idee monieren dagegen, dass man mit strengeren Vorschriften engagierten Gründern den Wind aus den Segeln nehme und das Programm abwürge.

Seit dem Start des Projekts Anfang 2003 hat die Bundesagentur 192.350 der Gründungen bezuschusst. 34.994 Geförderte hatten sich bis Ende August dieses Jahres wieder aus dem Programm verabschiedet. Mit diesen Zahlen jonglieren Befürworter wie Gegner gleichermaßen: Tausende ehemalige Arbeitslose, die den Mut hatten, sich selbstständig zu machen, loben die einen. Die anderen halten die Abbrecherzahlen indes für einen Beweis, dass das Programm zum Missbrauch einlädt: Etliche der Subventionierten steckten lediglich die Höchstförderung im ersten Jahr ein, um sich dann wieder arbeitslos zu melden.

Angst vorm Gespenst

Wer Recht hat, lässt sich noch nicht sagen, Untersuchungen laufen erst seit kurzer Zeit. Bis die Ergebnisse vorliegen, kann trefflich spekuliert werden: Kassieren die Gründer ohne ernsthafte unternehmerische Absichten ab? Sind Tausende von Ich-AGs womöglich so erfolgreich, dass sie die Einkommensgrenze von 25.000 Euro überschritten haben? Vergessen die Betreiber, den Antrag für die Förderung im Folgejahr zu stellen? Oder ist es eine Mischung aus allem?

Immerhin liefern zwei erste Studien aus den Beleg, dass unter den Kleinunternehmern nicht wesentlich mehr Gründer abbrechen als allgemein in der Wirtschaft. Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur mahnen, dass sich der Erfolg der Ich-AGs frühestens in eineinhalb Jahren bemessen lasse, wenn die volle Förderzeit für die ersten Pioniere einmal abgelaufen ist.

Zu denjenigen, die sich bereits aus dem Programm verabschiedet haben, gehört Anita Stapel aus der Stadt Brandenburg. Nicht, weil sie zu viel verdient hätte. "Von der Ich-AG hab ich die Faxen dicke", schimpft die 57-Jährige. Sie zahlt heute noch jeden Monat 20 Euro Schulden ab aus ihrer kurzen Unternehmertätigkeit. Dabei hatte sie sich mit einer Idee selbstständig gemacht, die Arbeitsmarktexperten durchaus als zukunftsträchtig gilt: Seniorenbetreuung. Auf den Gedanken war sie über eine Zeitungsanzeige gekommen, in der Betreuer für ältere Menschen gesucht wurden. Über diesen Kontakt bekam sie ein Ehepaar in Bremen vermittelt. Zum vereinbarten Termin Anfang April war alles vorbereitet: ein Vertrag unterschrieben, die Ich-AG gegründet - Anita Stapel war aufgeregt. "Mein Schwiegersohn hatte mir einen großen Koffer gebracht, sogar den Badeanzug hatte ich eingepackt, weil ich wusste, dass es dort ein Schwimmbad gibt", erzählt sie. Und dann kam am Abend vor der geplanten Abreise die Absage. Da verließ sie der Mut. Schon zwei Wochen später gab es ihre Ich-AG nicht mehr.

Anita Stapels beruflicher Lebensweg war bis zur deutschen Wiedervereinigung ohne Brüche verlaufen. Studiert, gearbeitet in einer Personalabteilung, drei Kinder großgezogen. 1990 kam der Einschnitt: Stelle gestrichen, arbeitslos, der Auftakt einer Karriere in Weiterbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie es vor allem im Osten viele gibt. "Mir kann niemand unterstellen, dass ich nur rumsitze, aber das Arbeitsamt hatte immer nur ABMs für mich", sagt sie. Sie nahm, was sich bot: packte in einer Zigarettenfabrik am Band Kartons für die Tankstellen, half auf dem Friedhof aus, bildete sich weiter zur Buchhalterin, zur Kommunikationsassistentin, zur Kinderbetreuerin - aber nie wurde daraus ein fester Job. 600 Euro Arbeitslosenhilfe bekommt sie heute, netto, plus 60 Euro Wohngeld. Mit der Ich AG war es eine andere Rechnung: 600 Euro Fördergeld, davon gingen 320 Euro für die Krankenkasse ab, weil Selbstständige selber ihrer Sozialversicherung zahlen müssen, minus 250 Euro Miete, dazu Extrakosten, zum Beispiel für die Eröffnung eines Geschäftskontos - bleibt nichts zum Leben, wenn nicht gleich die Einnahmen fließen.

"Ich habe das ja auch gemacht, weil ich weiß, dass es nächstes Jahr noch schlimmer kommt", sagt Stapel und meint damit die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II am 1. Januar 2005. Das Schreckgespenst Hartz IV. 331 Euro bekommt sie dann noch, plus Miet- und Heizkosten. Am Ende bleibt wieder ein bisschen weniger Geld übrig, fürchtet sie. Mit einer Ich-AG will sie es trotzdem nicht noch einmal probieren: "Dafür muss man entweder selber Geld besitzen oder einen Partner haben, der verdient."

Spaß am Knochenjob

Dieses Argument hört man von vielen, die das Wagnis Ich AG eingehen. Cornelia Bergemann betreibt in Berlin den Büro Service Bergemann. Die 41-Jährige erledigt die Buchhaltung für kleine Firmen, ein Schuster, ein Hausmeisterservice und eine Event-Agentur, manche davon selbst eine Ich-AG, zählen zu ihren Kunden. 5000 Euro hat sie in die Einrichtung ihres Büros zu Hause gesteckt, in Software, Telefon- und Faxanschluss, jeden Monat hat sie laufende Kosten von 90 Euro. "Im schlimmsten Fall verlieren wir das Geld. Wir könnten das verkraften, das haben wir vorher ausgerechnet", sagt sie. Ihr Mann ist Beamter. Wäre sie der Hauptverdiener, hätte die Mutter von zwei Kindern den Schritt in die Selbstständigkeit niemals gewagt.

Offenkundig werden Ich AGs auch von anderen eher als Test für die Selbstständigkeit oder als Möglichkeit für einen Zuverdienst gesehen - viele würden aber niemals ihre Existenz davon abhängig machen. Darauf deutet auch die ungewöhnlich hohe Frauenquote unter den Kleinunternehmern hin. Während der Anteil der weiblichen Selbstständigen sonst etwa bei 30 Prozent liegt, steckt laut den Studien aus München und Nordrhein-Westfalen hinter rund der Hälfte der Ich-AGs eine Frau. Viele sehen darin eine Starthilfe beim Versuch, Familie und Beruf miteinander zu verbinden - ohne allzu großes Risiko.

Cornelia Bergemann hat im ersten halben Jahr mit ihrem Büro-Service nicht viel eingenommen. Inzwischen hat sie so gut zu tun, dass abzüglich des staatlichen Zuschusses ein bisschen Geld übrig bleibt. "Aber leben könnte ich davon nicht." Deshalb glaubt sie auch nicht, dass das Konzept Ich-AG Tausende Arbeitslose in erfolgreiche Unternehmer verwandelt. "Die Unterstützung ist eine schöne Sache, aber ich hätte es auch ohne probieren können", sagt Bergemann.

So ist es auch bei Johanna Ismayr, der Chefin des Bundespressestrands. "Ich hätte das hier sowieso gemacht, mit oder ohne Ich-AG." Im Falle des Scheiterns hätte ihr Mann die Familie ernähren können. Im Moment muss dieser eher an anderer Stelle einspringen: einkaufen, die Tochter aus dem Kindergarten holen - und an Stress-Tagen auch mal an der Sommerbar aushelfen. "Das geht hier sieben Tage die Woche von morgens bis abends. Ich hätte niemals gedacht, dass das so ein Knochenjob wird", erzählt Johanna Ismayr.

Wenn der Bundespressestrand am nächsten Sonntag für dieses Jahr schließt, ist die Saison für sie nicht zu Ende. Im Winter organisiert ihre walks+talks GmbH Veranstaltungen für Fernsehsender, Parteien, Firmen und Verbände. Die ehemalige Ich-AG ist heute ein Unternehmen, das 20 Mitarbeiter beschäftigt - so dürfte es sich Peter Hartz damals vorgestellt haben.

© SZ vom 23.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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