Hartz-IV-Betrügern auf der Spur:Ermittlungen am unteren Rand

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Was Sozialdetektive erleben, die den Missbrauch beim Arbeitslosengeld aufdecken sollen. Unterwegs mit den Außendienstlern des Stuttgarter Jobcenters.

Doris Näger

Die Wahrheit lässt sich am besten in aller Frühe finden. Als Herbert Reiter auf die Klingel drückt, ist es 7.45 Uhr. Das Gesicht, das in der geöffneten Tür erscheint, ist leicht verquollen, das Gel vom Vortag legt die Haare kreuz und quer, Sterne und Streifen zieren die Unterhose. Herbert Reiter spult Routine ab: "Wir kommen vom Jobcenter Stuttgart. Dürfen wir hereinkommen?" Jetzt wird der Mann in der Tür wach. Richtet sich auf. Stemmt seinen Arm demonstrativ gegen den Türrahmen: Er habe nicht aufgeräumt; worum es denn gehe; was der Mann vom Amt denn in der Wohnung zu sehen glaube? "Sie drängen hier ganz schön rein", sagt der Endvierziger empört. "Darf ich mir wenigstens etwas anziehen?"

Wer betrügt, wer nicht? Sozialdetektive glauben nicht an Missbrauch in großem Maßstab. (Foto: Foto: dpa)

Jetzt hat er vielleicht wieder einen aufgestöbert, einen so genannten Sozialschmarotzer, hier in dieser renovierten Dreißiger-Jahre-Siedlung in einem Randbezirk des Stuttgarter Ostens. Herbert Reiter würde das nicht so drastisch formulieren. Er nennt sich - im Scherz - "James Bond für Arme" oder korrekt: Ermittler. Er heißt in Wirklichkeit gar nicht Reiter: Genauso wie sein Kollege will er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Jedenfalls macht er seit zwölf Jahren einen Job, den es künftig noch viel öfter geben soll - zur Bekämpfung der anschwellenden Kosten bei Hartz IV.

24,4 Milliarden Euro hat der Bund in diesem Jahr für das Arbeitslosengeld II im Haushalt vorgesehen, im ersten Halbjahr hat er bereits 13,7 Millionen Euro ausgegeben und damit mehr als die Hälfte. Es ist umstritten, ob es legitim ist, die Kosten hochzurechnen, aber im Frühjahr hatte sich daran schon eine Schmarotzerdebatte entzündet. Zu viele Leute missbrauchten die Sozialsysteme, wetterten auch Politiker wie der SPD-Chef Kurt Beck und sein Fraktionsvorsitzender Peter Struck. Mehr Kontrolle müsse her.

Was stimmt und was nicht?

Das soll nun, vom 1. August an, das Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz erledigen. Darin heißt es, die Arbeitsgemeinschaften und Jobcenters, die sich um Langzeitarbeitslose kümmern, sollten Außendienste einrichten. Mit dem Gesetz will das Bundesarbeitsministerium noch in diesem Jahr 400 Millionen Euro sparen, im nächsten Jahr sogar 1,2 Milliarden Euro. Für den Außendienst wird es aber kein zusätzliches Geld geben, auf der anderen Seite fallen dafür Stellen von Fallmanagern und Arbeitsvermittlern weg.

Jobcenter und Arbeitsgemeinschaften sollen eigenständig entscheiden. Die wiederum reagieren sehr unterschiedlich auf die Regelung: "Man kann ja keine Leute einstellen, die dann nicht bezahlt werden", sagt Andreas Beyer, Bereichsleiter im Berliner Jobcenter Friedrichshain/Kreuzberg. In den Jobcenters, die zur Arbeitsagentur Berlin-Süd gehören, ist kurzfristig keine Aufstockung geplant. Im Gebiet Berlin-Nord dagegen soll die Zahl der Prüfdienste von 18 auf 34 fast verdoppelt werden. In Köln haben bereits im Juli 16 Ermittler ihre Arbeit aufgenommen. In München will man erst einmal mit Zweien starten.

Herbert Reiter in Stuttgart gehört zu den Veteranen unter den Sozialdetektiven. Bald nach sieben Uhr brechen der 57-Jährige und sein 51 Jahre alter Kollege, der hier Peter Schmidt heißen soll, jeden Tag auf. Reiter, der unter schütterem weißen Haar durch eine getönte Brille schaut und ein paar Kilo gutbürgerliche Küche mit sich herumträgt. Der gerne mal den Landsmann Schiller zitiert und - ganz schwäbisch - in jeden zweiten Satz das Wörtchen "gschwind" einflicht. Und Schmidt, ein stiller, zierlicher Mann mit grauen Schläfen, in Jeans und Karohemd. Er wollte einst zur Kripo, Gesundheitsprobleme vereitelten seine Karriere bei der Polizei, doch die Sozialbehörden konnten ihn mit einem ähnlichen Job trösten. Seit 16 Jahren macht er das. Früher beim Jugendamt, dann beim Sozialamt und jetzt eben für das Jobcenter. Reiter ist seit zwölf Jahren dabei. Beide Ermittler tragen Schnauzbart und Bequemschuhe. Fahren öffentlich und gehen viel zu Fuß. Sie sind meist getrennt unterwegs und immer mit konkretem Auftrag von einem Anrufer oder dem Sachbearbeiter.

Zum Beispiel: Klärung der Wohnverhältnisse. An dieser Straße im Herzen des Stuttgarter Ostens erstrecken sich auf der einen Seite niedrige Klinkerhäuser den Berg hinauf, gegenüber ein angegrauter fünfstöckiger Block, das Zielobjekt.

Sie kommen schon zum zweiten Mal an diesem Tag. In diesem Fall hat die Frau angegeben, der Mann sei zu seiner Mutter gezogen. Der Mann sagte, die Frau sei weg. Was stimmt? Sollten sie noch zusammen wohnen, würde ihr Einkommen auf das Arbeitslosengeld II des Mannes angerechnet. Neben den Reihen der Klingelschilder und einer Briefkastenserie steht die Haustüre offen. "Wenn man ins Haus reinkommt, ist es am besten - alter Grundsatz", sagt Schmidt erfreut. Mit dem Aufzug geht es in den zweiten Stock. Die Schiebetür rappelt leise auf. Tage alter Essensgeruch schlägt den Ermittlern entgegen. Eine einzige Wohnungstür ohne Namensschild. Rechts und links Glastüren zu weiteren Fluren. Versperrt. Eine junge Frau kommt die Treppe herauf, schließt die rechte Tür auf. "Wo wohnt denn Herr K.?", fragt Schmidt. Die Frau weiß wenig. Man kenne sich hier nicht, sagt sie. Aber nebenan wohne ein Mann. Ob er auch eine Frau habe, fragen die Ermittler? Ja, aber die habe sie lange schon nicht mehr gesehen. Schmidt drückt die Klingel. Sie gibt keinen Ton von sich. "Da kann man es unten natürlich lange versuchen", sagt er. Schmidt klopft. Keine Antwort. Er wird hier erst am nächsten Tag jemanden antreffen: die Frau, die dann sagen wird, dass sie gerade wieder mit ihrem Mann zusammengezogen sei.

Putztipps vom Amt

Wie verbreitet Missbrauch tatsächlich ist, darüber gibt es keine Zahlen. Der frühere SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hatte behauptet, 20 Prozent aller Hartz-IV-Betroffenen bezögen ihr Geld unberechtigterweise. Angeblich besonders beliebt sind diesen Varianten: den Sprössling ausziehen lassen, damit er die vollen 345 Euro bekommt.

Wohnungseinrichtung beantragen, die einem eigentlich nicht zusteht. Als unverheiratetes Paar eine zweite Wohnung mieten, um auch hier zwei Mal den vollen Satz zu bekommen. Als Paar zusammen leben, aber dem Staat vorgaukeln, es handle sich um eine Wohngemeinschaft.

Reiter und Schmidt stehen an einer schattigen Straßenecke am Hang, entfalten den Zettel, auf dem alle wichtigen Daten für unterwegs notiert sind und lesen nochmals nach, was sie beim nächsten Besuch erwartet. Sie haben schon vieles erlebt, spektakulär war es selten: Dass sich einer im Schrank oder auf dem Balkon versteckt oder über die Dachrinne flüchtet, das komme einmal im Jahr vor. Auch mit so etwas haben sie zu tun: Sie besuchten einen Mann, der einen neuen Herd und einen neuen Kühlschrank beantragt hatte. "Aber auf den alten Geräten war einfach nur zentimeterdick der Speck drauf", sagt Reiter. Das Amt spendierte statt neuer Geräte Putztipps.

"Das liegt in der Natur des Menschen", sagt Reiter und erinnert an das Ausmaß von Steuerhinterziehung. Die Leute versuchten eben, Geld zu holen, wo sie könnten. Und da es mit Hartz IV weniger gibt, macht mehr Not noch erfinderischer - oder, wie es Reiter sagt, "isch der Drang ans Geld noch größer". Das versteht der Schwabe: "Ich würd's auch probieren." An den großen Missbrauch glaubt er trotzdem nicht: "In der Sozialhilfe betrug der Anteil drei Prozent, das werden jetzt nicht viel mehr sein." Auch der Hartz-IV-Ombudsrat der Bundesregierung teilt "nur bedingt die Auffassung, dass die gestiegenen Ausgaben zu einem erheblichen Teil durch Leistungsmissbrauch verursacht sind".

Zwei Minuten vom Stöckachplatz entfernt, in einem langgezogenen Funktionsbau hinter Bäumen, sitzt der Mann, der den Überblick hat. Dritter Stock des Stuttgarter Jobcenters, ein karges Büro. Thorsten Wieland blättert in Akten. Der Leiter der Abteilung "Grundsatz und Recht" ist Reiters und Schmidts Chef. Er findet die Diskussion um Missbrauch "unverhältnismäßig". Sie schaffe ein Vorurteil gegen Langzeitarbeitslose, das nicht zutreffe. Wenn jemand statt 311 fälschlicherweise 345 Euro bekomme, dann sei das "vernachlässigbar", findet Wieland: "Da muss man ehrlicherweise fragen, wo das Geld sonst rausgeht."

Von Anfang an habe die Bundesregierung mit falschen Zahlen kalkuliert und die Zahl der bedürftigen Haushalte viel zu niedrig angesetzt. Den Außendienst will Wieland mit zwei bis drei Kollegen aufstocken. "Die präventive Wirkung ist ganz wichtig", sagt er. Und finanziell lohnt es sich sowieso, zumindest in Stuttgart: 300.000 Euro sparen Reiter und Schmidt der Behörde im Jahr, so Wieland, sie selbst kosten zusammen aber nur 60.000 bis 80.000 Euro.

Noch einmal im Stuttgarter Osten: Der verschlafene Endvierziger, dessen Lebensverhältnisse die Ermittler genauer kennen wollen, kommt, jetzt mit Shorts, Polo und Badeschlappen bekleidet, aus seiner Tür. Reiter klärt ihn auf, dass er wissen will, ob seine Frau noch bei ihm wohne. Was der Ermittler dem Hartz-IV-Bezieher nicht sagt, ist, dass er, falls nicht, weniger Geld bekommt. Der Mann beginnt zu sprudeln. Seine Frau sei mit einem jungen Kerl durchgebrannt. Sie habe das andere Auto mitgenommen und behauptet, es sei ihr gestohlen worden. Er bekommt Post von der Polizei wegen Geschwindigkeitsüberschreitung. Auf dem Blitzer-Foto ist der Freund seiner Frau zu sehen. Das muss den eigentlich kernigen Endvierziger schwer getroffen haben: "Jetzt fährt der mit meinem Auto", sagt er. Ermittler Reiter lässt sich auf dem Speicher verpackte Jacken und Pullover der Frau zeigen. "Ich werde ihr die ganzen Sachen schicken", sagt der Mann trotzig, "damit ich sie nicht mehr sehen muss." Reiter genügt das nicht. "Kann ich gschwind mit reinkommen?", insistiert er. Auf dem Weg zum Bad türmen sich in der Wohnung Wäscheberge, das Bett ist noch zerwühlt.

Die Sozial-Ermittler sind sehr umstritten. Weil sie auch herausfinden sollen, ob zwei Menschen in so genannten eheähnlichen Verhältnis leben. Davon hängt ab, ob sie finanziell füreinander einstehen müssen - und des einen Lohn des anderen Bezug von Arbeitslosengeld II verhindert. Auf dem Weg zur Wahrheit werden Zahnbürsten gezählt, Schlafzimmer inspiziert, die Präsenz eines Rasierwassers vermerkt oder registriert, wo welche Schmutzwäsche landet. All diese Indizien könnten im Ernstfall Beweismittel vor Gericht werden. Als Ausruck eines "Schnüffelstaats" empfindet Ottmar Schreiner, Bundesvorsitzender Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, solche Kontrollen.

Gerichte haben bereits in dubio pro reo entschieden: Das Sozialgericht Düsseldorf beispielsweise urteilte, dass das Zusammenwohnen die gegenseitige Anrechnung von Einkommen noch nicht rechtfertige.

Als Schnüffler sieht sich Reiter aber sowieso nicht: "Wir zählen keine Unterhosen", sagt er. Er lasse sich im intimsten Fall den Kühlschrank oder den Schlafzimmerschrank zeigen. "Ich fasse nichts an." Ohnehin müsse er die Leute um den Zutritt bitten: "Ich habe ja keinen Durchsuchungsbefehl." Falls sich jemand weigert, kann ihm allerdings das Arbeitslosengeld II gekürzt werden. "Sie haben eine Mitwirkungspflicht, so steht es im Gesetz", erklärt Reiter. Die Frage einer eheähnlichen Gemeinschaft werde nur in einem Drittel aller Fälle geprüft. Außerdem erkenne man diese viel früher an Faktoren, die vor einem Hausbesuch schriftlich geklärt würden. "Haben Sie gemeinsame Kinder?", wird beispielsweise abgefragt oder: "Haben Sie ein gemeinsames Girokonto?", "Benutzen Sie alle Zimmer gemeinsam?", "Werden die Mahlzeiten gemeinsam zubereitet?" Erst, wenn die Antworten kein eindeutiges Urteil zuließen, würden die Leute zu Hause besucht.

Noch eindeutiger wünscht es sich die große Koalition künftig. Um die Hartz-Behörden zu entlasten, wird vom 1. August an die Beweislast umgekehrt: Dann gelten Menschen unterschiedlichen Geschlechts, die länger als ein Jahr zusammenwohnen, als eheähnliche Gemeinschaft und müssen füreinander zahlen. Das Gegenteil muss der Arbeitslose beweisen. Das provoziert erst recht Kritik: "Die Bundesregierung setzt sich damit über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinweg", sagt Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland. Denn die Frage, wie eine Bedarfsgemeinschaft zu definieren ist, hat das höchste Rechtsprechungsorgan bereits 1992 geklärt. Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, befürchtet eine soziale Isolation der Langzeitarbeitslosen. Keiner werde mehr mit ihnen zusammenwohnen wollen. Und teurer für den Staat wird dies mittelfristig allemal.

Herbert Reiter schaut sich in der Wohnung um. Wieder Frauenkleider, diesmal in Kisten verpackt. Doch ihm ist längst alles klar. Im Gehen hat er noch einen Tipp parat: "Ihrer Frau die Sachen schicken, das würde ich nicht machen, behalten Sie das, dann haben Sie was in der Hand." Man merkt, dass er seit Jahrzehnten in der Sozialverwaltung arbeitet. Der Mann bedankt sich sogar noch bei den "netten Leuten von der Stadt". Auf der Straße verrät Reiter, dass er den entscheidenden Hinweis auf die wahren Wohnverhältnisse schon hatte, ehe sich die Türe schließlich öffnete - von einem Nachbarn. Wo der Herr wohne, hatte Reiter den gefragt. Der Hausbewohner auf dem Balkon hatte geantwortet: "Der wohnt allein da oben."

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