Hartz IV:345 Euro von der Armut entfernt

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Das neue Arbeitslosengeld II weckt Ängste bei den Betroffenen - und bei den Arbeitsagenturen.

Von Nina Bovensiepen

Noch vor wenigen Wochen wäre der Bombenalarm höchstens von regionalem Interesse gewesen. So aber erregte die Meldung, dass ein anonymer Anrufer die Detonation eines Sprengsatzes in der Leipziger Arbeitsagentur angekündigt hatte, in der vergangenen Woche bundesweit Aufmerksamkeit. Hatte sich hier jemand einen Scherz erlaubt? War der Mann, der aus einer Telefonzelle angerufen hatte, verrückt? Oder war es ein Langzeitarbeitsloser, dem mit der Einführung des neuen Arbeitslosengeldes II Anfang 2005 finanzielle Einbußen drohen?

"Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" - so schlicht ist die Arbeitsmarktreform der Bundesregierung überschrieben, die nun die Gemüter erregt. Mal geht es um Massenumzüge in Plattenbauten, die wegen der Reform angeblich notwendig würden; mal um mehr Polizeischutz für die Arbeitsagenturen. Dann wieder warnen Verbände vor dem drohenden Zwangsverkauf von Schrebergärten.

Hitzige Debatten, die sich mit den ernsthaften Folgen für die gut drei Millionen Betroffenen der Reform auseinander setzen, mischen sich mit populistischen Einwürfen. Die Opposition nutzt die Angst der Arbeitslosen, die ab Januar auf den Sozialhilfesatz von 345 Euro zurückgestuft werden, und macht Stimmung gegen die Regierung. Aber auch im sozialpolitischen Flügel der SPD wachsen die Bedenken, ob richtig ist, was da verabschiedet wurde.

Am Montag zum Beispiel meldete sich der SPD-Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter zu Wort: Über die Zahlungslücke, die entsteht, weil es nach jetzigem Stand für die Betroffenen im Januar weder das neue Arbeitslosengeld II noch die letztmals Ende Dezember ausgezahlte alte Arbeitslosenhilfe gibt, werde noch zu reden sein. Auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement spricht nur noch von einem "Vorschlag"; alles Weitere werde auf der nächsten Kabinettsklausur am 3. und 4. September geklärt. Im Übrigen, versichert sein Sprecher, würden alle, die durch die Antworten im Fragebogen ihre Bedürftigkeit nachwiesen, schon im Januar Arbeitlosengeld II bekommen.

Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen

Von Woche zu Woche spüren die Genossen stärker, wie sehr die Reform gerade ihre eigene Klientel berührt. Wenn die Erwerbslosen Anfang 2005 erstmals auf dem Konto sehen, wie wenig Geld sie bekommen, werde sich der Ärger "in Aggression und Gewalt" Bahn brechen und zur Bildung einer außerparlamentarischen Opposition führen, sagt die Arbeiterwohlfahrt voraus.

Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), äußerte jüngst die Erwartung, Sozialämter und Arbeitsagenturen würden dann verstärkt um Polizeischutz. Freiberg betreibe Panikmache, schallte es von politischer Seite zurück - was den GdP-Vorsitzenden nicht beeindruckt: "Unsere Mitarbeiter arbeiten an den Brennpunkten, deshalb sind wir ein Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen." Freiberg rechnet mit "Protesten auf der Straße" und "Konflikten in den Sozialämtern". Meldungen, dass über Wachschutz in Arbeitsagenturen nachgedacht werde, machen die Runde.

Sicherheitskonzepte überprüft

Und tatsächlich ist es so, dass einige Ämter in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit ihre Sicherheitsvorkehrungen verstärken. So sind in der Arbeitsagentur Chemnitz und ihren fünf Geschäftsstellen seit dem 1. August sechs Mitarbeiter einer privaten Sicherheitsfirma im Einsatz, welche die Vermittler schützen sollen, falls es zu Konflikten kommt.

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, habe die Ämter kürzlich ermahnt, ihre Sicherheitskonzepte zu überprüfen, bestätigt eine Sprecherin der Nürnberger Behörde. Die meisten der 180 Arbeitsagenturen planten derzeit aber keine zusätzlichen Vorkehrungen. "Wir wollen unsere Kunden nicht kriminalisieren", heißt es in etwa Leipzig. Kommunizieren und deeskalieren - so lautet offiziell die Devise.

Sie haben angerufen

Deeskalieren wollte kürzlich auch Arbeitsminister Clement. Wer mit den 16-seitigen Antragsformularen für das Arbeitslosengeld II "nicht zurechtkommt, soll mich anrufen", sagte er. Doch das entfachte nur neue Aufregung. In Zeitungen wurde Clements Büronummer veröffentlicht; Hunderte Anrufer legten sein Ministerbüro lahm.

Ähnlich ergeht es Clement in diesen Tagen oft: "Fiese Tricks" hält ihm Hermann-Josef Arentz, Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, wegen der möglichen Zahlungslücke vor, "geschmacklos" nannte Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) den Einsatz von West-Beamten in ostdeutschen Arbeitsagenturen. "Clement versinkt von Tag zu Tag mehr im Chaos-Sumpf", stichelt auch der CSU-Arbeitsmarktexperte Johannes Singhammer.

Der Minister, der sein Schicksal mit dem Gelingen der seit Jahrzehnten wichtigsten Arbeitsmarktreform verknüpft hat, behauptet dagegen, durch die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe werde "nach menschlichem Ermessen niemand abstürzen"; sie werde vielmehr dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit zu senken. Das ist der Maßstab, nach dem abgerechnet wird - spätestens bei der Bundestagswahl 2006.

© SZ vom 3.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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