Gutes Benehmen:Nicht dressiert, sondern zivilisiert

Lesezeit: 5 min

Toleranz, Mitleid, Rücksicht: Echte Höflichkeit besteht nicht aus starren Konventionen. Sie verlangt vor allem Achtung vor den Anderen.

Von C. Bernd Sucher

Etikette und Höflichkeit sind nicht dasselbe. Etikette ist Nachahmung, ist das Vorführen von gutem Benehmen, von Konventionen, die gelernt und beherrscht werden. Höflichkeit ist etwas ganz anderes, etwas viel Lebendigeres. Ist Erfindung. Ist Spiel, in dem es vor allen anderen eine Regel zu beachten gilt oder besser - zu leben: Höflichkeit erfordert Angemessenheit. In jeder Situation gilt es von neuem zu bedenken, was zu tun, was zu lassen ist. Wann dem Plaudern das Schweigen vorzuziehen ist.

Natürlich gibt es Verhaltensformen, die immer richtig sind und nie diskutiert, also nicht bedacht werden müssen, wenngleich auch sie keineswegs im Alltag schon durchgesetzt sind. Gemeint sind die schlichten Gesten: Das Grüßen am Arbeitsplatz - der, der kommt, sagt "Guten Tag". Natürlich überlässt man in U- oder S-Bahn seinen Platz dem Älteren, Gebrechlicheren, der Frau mit Kind. Natürlich wendet man sich um, wenn man durch eine Tür geht, zu sehen, ob jemand folgt, ihr oder ihm die Tür aufzuhalten - das nennt man Rücksicht. Natürlich beginnt man nicht zu essen, während die anderen auf ihre Teller warten. Natürlich sagt man bitte, wenn man etwas möchte - auch zum Postbeamten, zur Stewardess, zur Verkäuferin; und natürlich sagt man danke, wenn man erhalten hat, was man wünschte und selbst dann, wenn man es nicht erhalten hat oder einem nicht geholfen werden konnte. Solche Gesten zur Beruhigung im öffentlichen Raum sind also nicht gemeint, wenn vom Spiel mit der Angemessenheit die Rede ist.

Was tun, wenn ...

Klare Situationen erfordern klare Zeichen - sozusagen das Standardprogramm guten Benehmens. Schwierig wird es, wenn man mit diesem nicht mehr auskommt. Also meistens. Dann gilt es zu überlegen, was dem anderen das größere Vergnügen ist, die größere Annehmlichkeit, das richtige Zeichen für Aufmerksamkeit und Wertschätzung. So korrekt es ist, Damen immer vor den Herren zu begrüßen, so falsch ist es, sie immer - nur weil man es kann - mit einem Handkuss zu begrüßen. Andererseits gibt es Momente, in denen dieser Handkuss das richtige Zeichen ist. Es gilt in Sekundenschnelle zu entscheiden, zu spielen und dabei zu wissen: Wer einmal damit angefangen hat, muss mit allen Damen gleich verfahren.

Höflichkeit erfordert diskrete Beobachtung, rasche Einschätzung der Lage und ebenso entschlossenes Reagieren. Das Tanzstunden-Wissen; das, was man bei so genannten Benimm-Kursen lernt, ist Technik nur, und bleibt Äußerlichkeit. Hilft weiter in den Standard-Situationen. Doch da Menschen meist nicht zusammen kommen wie in diesen gestellten Wir-üben-mal-fein-zu-sein-Stunden, beginnen die Schwierigkeiten erst danach. Was tun, wenn es für die Schnecken nur eine Kuchengabel gibt; wenn die Hausherrin sich während des Essens mit ihrem Mann zofft, wenn der Hase schwarz ist und das Huhn noch roh; wenn die Gäste indiskret sind und der Chef unverschämt?

Angemessenheit bedeutet, dass man sich einstellt auf die anderen, ohne sich zu verstellen. Auch in der Art sich zu kleiden, sich zu unterhalten, aufzutischen. Das Verhalten muss in einem richtigen Maß sein zu den Menschen, mit denen man sich umgibt, denen man begegnet, oder zu denen man eingeladen ist. Es ziemt sich vieles manchmal nicht, was sich eigentlich gehört. Das heißt: Wer sich benehmen kann, reagiert auf Situationen, auf Räume, auf Menschen und wird, wenn seine Gastgeber den Fisch mit zwei Gabeln essen, es ihnen gleichtun - und nicht nach einem Fischbesteck fragen, nicht einmal nach einem Messer. Wer Gäste einlädt, die er schätzt, von denen er aber weiß, dass sie weder einen Smoking besitzen noch einen dunklen Anzug und sie dennoch am Silvesterabend bei sich haben möchte - oder schwieriger noch: in ein Restaurant bittet - , der muss, will er nicht just diesen Gästen den Abend verderben, sich einfach kleiden und die anderen Gäste bitten, es ihm gleichzutun.

Angemessenheit setzt Achtung voraus. Und ein großes Maß an Sensibilität. Diese Art der Höflichkeit - und sie ist meiner Meinung nach die einzige, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht die Manieren - gründet in dem Bemühen, stets zuvorkommend zu sein. Die Einhaltung bestimmter Konventionen ist nötig, aber daneben gilt ein Gedanke Kants, der in seinen "Reflexionen zur Anthropologie" formulierte: Man möge das Leben ansehen wie ein Kinderspiel, "in dem nichts ernsthaft ist als die Redlichkeit".

Gutes Benehmen, die bloße Einhaltung von bestimmten Verhaltens-Maßregeln, verdienen den Namen Höflichkeit nicht. Der formgewandte Nationalsozialist, der den Handkuss beherrschte, den Plauderton der Salons, der blind einen Bordeaux oder einen Burgunder erkannte, der im Konzentrationslager zu Kammerkonzerten einlud und zu Rilke-Lesungen, er mochte gute Manieren haben. Höflich war er nicht - und nicht zivilisiert. Und schon gar nicht "moralisiert", um noch einmal Kant zu zitieren. Es gibt keine Höflichkeit ohne Toleranz, Mitleid, Rücksicht und Großzügigkeit.

Höflichkeit ist eine Haltung gegenüber Menschen, weshalb Goethe recht behält: Es gibt in der wahren - eben nicht geheuchelten, nicht zur Schau gestellten - Höflichkeit kein äußeres Zeichen, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hat. Just deshalb ist diese zivilisierte Form des Umgangs miteinander letztlich eine Herzensangelegenheit: "Sie ist", so Goethe in den "Maximen und Reflexionen", "der Liebe verwandt": Das klingt groß, wohl manchen zu hehr.

Doch dies beherzigend, kann Höflichkeit nie Lüge sein. Sie gründet in der optimistischen Vorstellung, dass es nie einen Grund gibt, Menschen zu missachten, ihnen Respekt zu verweigern. Weshalb es auch nicht möglich sein dürfte, Menschen mit verschiedenen Höflichkeiten zu behandeln, womöglich Unterschiede zu machen wegen ihrer sozialen Stellung. Wer seinem Arbeitgeber die größte Achtung erweist, doch seinen Kollegen schnöselig und unfreundlich begegnet, er kann sich - wenn's drauf ankommt - benehmen: Allein, er ist kein höflicher Mensch. Sondern ein berechnender, dem Höflichkeit ein Mittel neben vielen anderen ist, ans Ziel zu kommen.

Ist Höflichkeit lernbar?

Höflichkeit hat indes kein Ziel: Sie ist eine Tugend. Tugenden kann man nicht erlernen - in keinem Kurs, mit keinem Handbuch - sie werden erworben in der Kindheit und der Jugend, weitergegeben von Eltern, vielleicht von Pastoren, Pfarrern, Rabbinern und, wenn Kinder sehr viel Glück haben, von Lehrern. Was sollen sie also nutzen, diese Kurzstudien zur Höflichkeit? Jeder weiß danach, dass man Spaghetti nie schneidet; weiß, wie man Schneckenzangen verwendet und Austerngabeln; wird aufstehen, wenn die Dame neben ihm den Tisch verlässt; wird sich am Telefon mit seinem Namen nennen und nicht mit einem "Hallo"; wird nie wieder einen Zahnstocher benutzen und nicht laut schneuzen. Gut so. Wer das kann und weiß, ist dressiert. Doch nicht zivilisiert. Er kann sich benehmen, aber wehe, er wird konfrontiert mit den schwierigeren Übungen, die Angemessenheit fordern und nicht zu meistern sind mit Manieren, er wird sich gut benehmen und unhöflich bleiben. Er macht vieles richtig - und das Wesentliche falsch.

Denn ihm fehlt die Geisteshaltung für das richtige Maß. Gutes Benehmen sei allein dann erfreulich, "wenn wir auf die anderen Rücksicht nehmen und nicht nur auf uns selber achten", formulierte der Autor Giovanni Della Casa 1598. Sein Urteil hat nichts von seiner Richtigkeit in den vergangenen vierhundert Jahren verloren. Es gehört sich wirklich, den Willen der anderen zum eigenen Wunsche zu erheben, wo dies keinen Schaden und keine Schande zur Folge hat. Und das heißt: Manchmal ist es angemessen, mit Menschen zu brechen; Tischgesellschaften zu verlassen - und gegen alle Etikette - seine guten Manieren aufzugeben. Um Haltung zu beweisen.

Der Autor ist Theaterkritiker der SZ und Autor des Buches "Hummer Handkuss Höflichkeit".

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: