Grundschule:"Eltern rasten aus"

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Vor dem Wechsel in die weiterführenden Schulen liegen die Nerven blank: Eltern fürchten um die Zukunft ihres Kindes und drohen den Lehrern mit Rechtsanwälten, Beschwerden ans Ministerium oder Schulabmeldungen.

Birgit Taffertshofer

Alisa ist jetzt neun. Ein aufgewecktes Mädchen, ein fröhliches Kind. Doch neuerdings, wenn sie nachmittags in den Garten rennt, versucht Alisa auch zu fliehen. Sie macht nicht gerne Hausaufgaben, trifft sich nicht mit Freunden. Aus der Schule kommen kritische Meldungen. Bei der letzten Klassenarbeit gab Alisa auf, dabei gehörte sie mal zu den Klassenbesten. Die Eltern sind nervös. Sie wissen: Am Freitag fallen in Bayern die Würfel. Dann erhalten die Schüler der vierten Klasse einen Zettel, auf dem geeignet oder nicht geeignet steht. Hinterher weiß jedes Kind, wohin es gehört: ans Gymnasium oder an die Hauptschule.

Grundschülerin im Lernstress: Mehr als die Hälfte der Eltern in Deutschland wünsche sich, dass ihr Kind aufs Gymnasium vorrückt. (Foto: Foto: iStock)

Vor dem Wechsel in die weiterführenden Schulen liegen die Nerven in vielen Familien blank. Eltern fürchten, dass sich genau jetzt die Zukunft ihres Kindes entscheidet. Um dem Nachwuchs die beste Bildung zu ermöglichen, ist ihnen offenbar keine Anstrengung zu groß. Bundesweit erhält jedes fünfte Grundschulkind Nachhilfeunterricht. Dazu gibt es Lerntechnikkurse, Therapiestunden und Anti-Stress-Übungen. Und sollten die guten Noten trotzdem ausbleiben, müssen die Viertklässler in einigen Bundesländern zum Aufnahmetest am Gymnasium oder an der Realschule antreten.

Verschlungene Wege zum Abitur

Selbst gut gemeinte Hinweise auf den zweiten Bildungsweg, auf Förderklassen, M-Züge und Fachabitur, stoßen bei Eltern oft auf taube Ohren. Zu präsent sind die Berichte über perspektivlose Hauptschüler. Zu vage und verschlungen sind die alternativen Wege zum Abitur. Längst wünschen sich mehr als die Hälfte der Eltern in Deutschland, dass ihr Kind aufs Gymnasium vorrückt. Doch in Ländern wie Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen entscheiden nicht Mütter und Väter über den Bildungsweg des Nachwuchses, sondern Noten und Lehrer.

Spätestens in der vierten Klasse ist der Alltag vieler Kinder nur noch vom Lernen geprägt. Oder die Eltern heizen den Lehrern ein: Sie drohen mit Rechtsanwälten, Beschwerden ans Ministerium oder Schulabmeldungen. In Bayern hat sich die Häufigkeit, in der Eltern Noten anfechten, binnen weniger Jahre vervierfacht. In Hannover bewarf eine Mutter im Streit über ihre Tochter den Schulrektor Rüdiger Brandt mit einer Tasse. Die Scherben verletzten ihn an der Hand, die er sich schützend vor das Gesicht gehalten hatte. Die Frau wurde wegen schwerer Körperverletzung verurteilt.

"Die Eltern rasten immer öfter aus, gerade in der Zeit vor dem Schulwechsel", beobachtet Gitta Franke-Zöllmer vom Verband Bildung und Erziehung (VBE). Es mangle an Fachpersonal zur Konfliktbewältigung. Während den Lehrern in Skandinavien und England Psychologen und Sozialarbeiter zur Seite stehen, müssten die Pädagogen hierzulande solche Aufgaben miterledigen. Das Studium bereitet sie kaum darauf vor.

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Zerbrechende Freundschaften

Psychologen sehen die hohen Erwartungen der Eltern mit Sorge. "Sie starren wie die Lehrer nur noch auf die Noten", sagt Stefan Drewes, Vorsitzender der deutschen Schulpsychologen. Alles drehe sich nur noch um Leistung und Erfolg des Nachwuchses. Das Kind bleibe dabei häufig auf der Strecke. Viele Schüler kämen mit Versagensängsten, Motivations- und Konzentrationsschwierigkeiten in seine Beratungsstunden. "Die sitzen hier und fühlen sich schuldig, weil die Mama traurig ist", sagt der Psychologe aus Düsseldorf. Die Ansprüche und Ängste der Eltern seien längst auch die der Kinder. "Daran zerbrechen Freundschaften", sagt Drewes. Künftige Hauptschüler seien als Spielkameraden nicht gefragt.

Schuld an dem Druck sind aber nicht allein die Eltern, da sind sich Psychologen einig. Schuld sei auch das Schulsystem. "Die frühe Selektion ist ein großes Problem für die Kinder", sagt Kinder- und Jugendpsychiater Franz Joseph Freisleder. Der Leistungsdruck überfordere sie. Spätzünder, häufig Jungen, seien benachteiligt. Ob eine längere gemeinsame Schulzeit die Probleme lösen würde, wagt er aber nicht zu prophezeien. Eine Aufteilung während der Pubertät bringe neue Probleme, sagt er.

Traumatisierte Hauptschüler

Studien zeigen, dass die Empfehlungen zum Übertritt nach der vierten Klasse sehr fehleranfällig sind. Egal, ob Lehrer oder Eltern entscheiden. Leidtragende sind besonders jene Schüler, deren Eltern sich in der Schule wohl eher selten zu Wort melden. Die Fähigkeiten von Migranten- und Arbeiterkindern werden oft unterschätzt. Der Bildungsforscher Jürgen Baumert plädiert deshalb dafür, die Übergänge flexibler zu gestalten. Jugendlichen sollte es auch später noch möglich sein, an eine höhere Schule zu wechseln. Doch bisher ist das deutsche Schulsystem vor allem nach unten durchlässig. Und das bekommen zuallererst jene Kinder zu spüren, die mit aller Macht an die höhere Schule gehievt wurden. Ähnlich wie in anderen Bundesländern scheitert in Nordrhein-Westfalen jedes fünfte Kind schon in den ersten Jahren am Gymnasium. Nicht selten landen die Schüler, traumatisiert vom ständigen Misserfolg, an der Hauptschule.

Um solche Schicksale zu verhindern, hat auch Nordrhein-Westfalen Aufnahmetests an Gymnasien und Realschulen eingeführt. 2300 Kinder nahmen in diesem Jahr daran teil. Drei Tage lang stehen etwa ein Dutzend Schüler unter der Beobachtung von drei fremden Prüfern. "Es gibt nichts, was nicht schriftlich festgehalten wird", berichtet Anke Piel, Prüferin in Aachen. Einige Kinder seien sehr verängstigt. Kritiker sprechen deshalb bereits vom "Grundschul-Abi". Landesweit erhielten nur 15 Prozent der Prüflinge nachträglich das Plazet fürs Gymnasium, 22 Prozent für die Realschule. In anderen Ländern stehen die Erfolgsaussichten nicht sehr viel besser. Alisas Mutter ist sich deswegen unsicher, ob sie ihrer Tochter so eine zusätzliche Prüfungstortur zumuten will. Noch hoffen alle auf Freitag.

© SZ vom 28.4.2008/bön - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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