Glücksfall Arbeit:Ein echter Altruist

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Warum die Firma Merck einen promovierten Anglisten als Disponenten beschäftigt.

Von Christine Demmer

So einen wie Reiner Härtel trifft man nicht alle Tage. Inklusive Doktorarbeit hat der aus Bensheim stammende Mann knapp neun Jahre lang nur nach seinen Neigungen studiert - im Hauptfach Anglistik, in den Nebenfächern Romanistik und Ägyptologie. Er wollte Lektor werden, vielleicht auch Übersetzer, doch um eine große Karriere ging es ihm nie.

Erich Koch und Reiner Härtel. (Foto: Foto: SZ)

Härtel spricht zwölf lebende und tote Sprachen - Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Latein, Spanisch, Katalanisch, Rumänisch, Ägyptisch, Aztekisch, Quechua und Akadisch, die Sprache der Babylonier. Er liebt die Werke von Johann Sebastian Bach, das Radeln und das Joggen. Der 43-Jährige ist ledig und in seiner Freizeit nie ohne ein Buch oder eine Zeitschrift anzutreffen. Privat ist der multilinguale Wissenschaftler ein stiller Gelehrter, seine Brötchen verdient er als Disponent beim Chemieunternehmen Merck in Darmstadt - und in beiden Leben geht er vollkommen auf.

Danach sah es zu Beginn seines Berufsweges überhaupt nicht aus. "Ich hatte zwar ein paar Bewerbungen laufen - beim Auswärtigen Amt, bei Kulturbehörden und Verlagen. Aber als ich die Promotionsurkunde in der Hand hielt, war ich arbeitslos", sagt Härtel. Weil kein Job in Sicht war, steckte er die Nase weiter in seine Bücher. Seine Familie war hin- und hergerissen: Auf der einen Seite stolz auf den gebildeten Sohn, auf der anderen Seite besorgt um seine Zukunft. Fast ein Jahr verging, dann riet ihm ein Bekannter der Familie, sich doch mal bei Merck, dem chemisch-pharmazeutischen Konzern in Darmstadt, zu bewerben. Die suchten doch immer Werkstudenten, vielleicht könne er dort anfangen. Na los, Junge, probier's! Und Härtel verabschiedete sich innerlich vom Auswärtigen Amt und vom Verlagswesen und bewarb sich tatsächlich bei Merck.

Der dortige Verpackungsbetrieb II wurde damals von Erich Koch geleitet. Eines Tages klopfte einer seiner Betriebsmeister - just jener Bekannte der Familie Härtel - bei ihm an und erzählte von einem schwierigen Fall, einem hoch intelligenten jungen Mann, der viele Sprachen spräche, aber beruflich kein Bein auf den Boden bekäme. Ab und zu kehre er für ein paar Mark die Straße, läge aber ansonsten auf der Tasche des Vaters. Ob bei Merck nicht eine Stelle frei sei?

"Kann der denn überhaupt arbeiten?", fragte Erich Koch. "Oder hat er zwei linke Hände?" Koch, der selbst einen Doktortitel trägt, hatte genügend Konflikte zwischen Akademikern und Arbeitern in seinem Werk erlebt, um zu wissen, dass solche Konstellationen nicht immer gut laufen. Doch es gelang dem Betriebsmeister, ihn zu überzeugen, und eines Tages saß Reiner Härtel dann bei Erich Koch, und die beiden schlossen einen zunächst auf vier Wochen befristeten Anstellungsvertrag als Betriebsarbeiter in der Konfektionierung organischer Farbstoffe.

Trotzdem traute der Chef dem akademischen Braten noch nicht ganz: Würde Härtel auf seinen Doktorhut pochen, mit lateinischen Sentenzen um sich werfen und die Kollegen von oben herab betrachten? Ob er sich wirklich bei den Blaumännern werde integrieren können? "Nach der ersten Arbeitswoche habe ich mich in der Belegschaft umgehört", sagt Koch, "und siehe da: alle schütteten Komplimente aus. Er sei überhaupt nicht abgehoben, sondern zu allen äußerst freundlich und kooperativ." Der Vertrag wurde verlängert und schließlich in ein Dauerarbeitsverhältnis umgewandelt. Der Anglist brachte gute Leistungen, fühlte sich wohl, wechselte später in die Abfüllung, dann in die Lagerverwaltung und wurde nach sieben Jahren Vorarbeiter.

Seit 2002 arbeitet Reiner Härtel nun in der Logistik, heute als Disponent. "Hier gefällt es mir gut," versichert er, "ich sehne mich nicht nach einer anderen Arbeit oder nach der Wissenschaft." Aber ist ein solcher Job tatsächlich ein Glücksfall für einen begabten Geistesarbeiter? Fühlt er sich nicht ebenso unter- wie überfordert? Und kann seine Geschichte nicht als Appell an andere Akademiker missverstanden werden, sich mit bescheidenen Jobs zufrieden zu geben? "Härtel ist ein Glücksfall für uns alle", sagt Koch, "ein prima Mitarbeiter und echter Altruist." Beispiel: Als Koch seinen Mitarbeiter in eine bessere Lohngruppe hieven wollte, gab der zu bedenken: "Meinen Sie nicht, dass andere Kollegen das eher als ich verdient hätten?" Welchem Vorgesetzten verschlägt es da nicht die Sprache?

Dennoch wurmte ihn das brach liegende Wissen und Sprachtalent seines Mitarbeiters. Also schickte er Härtel zu Seminaren und Weiterbildungen. Als vor Jahren eine Stelle in der Besucherbetreuung der Firma ausgeschrieben war, Kenntnis mehrerer Femdsprachen Pflicht, sah er in seinem Betriebsarbeiter die Idealbesetzung und schlug ihn vor. Der Job wurde Härtel auf dem Silbertablett präsentiert, doch dann kam die Überraschung: Der wollte gar nicht! "Ich bin eben eher introvertiert", sagt er. Und daher fiele es ihm überhaupt nicht ein, seinen Kittel gegen einen Anzug zu tauschen und für Gäste aus aller Welt den sprachkundigen Dolmetscher zu geben.

© SZ vom 24.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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