Wäre die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben eine Krankheit, sie ließe sich mit einem diffusen Unwohlsein vergleichen. Schnupfnase und Gliederschmerzen - gar nicht so leicht zu sagen, ob der Patient direkt ins Bett gehört oder mit Aspirin und Nasenspray doch noch durch den Tag kommt. In diesem Bild entspricht die Berechnung der Lohnlücke dem Fiebermessen. Das vage Gefühl manifestiert sich zu einer konkreten Zahl.
Und diese Zahl bescheinigt dem deutschen Arbeitsmarkt richtiges Fieber, keine leicht erhöhte Temperatur. 21 Prozent verdienen Frauen hierzulande weniger als Männer. Nur in Estland und Österreich geht die Gehälterschere im europäischen Vergleich noch weiter auf. Das größte Problem an der Misere: Das Fieber geht nicht runter, die Lohnlücke schließt sich nicht. Lange hat man gehofft, das Thema würde sich von selbst erledigen. Wenn die Frauen bei der Bildung aufholen und ihre Berufstätigkeit als Vollzeitjob sehen statt als Übergangslösung, bis der Richtige ums Eck kommt. Immerhin hat sich die Gender Pay Gap so halbiert. In den 50er-Jahren lag die Lohnlücke noch bei mehr als 40 Prozent.
Inzwischen machen mehr Mädchen als Jungen Abitur, mindestens genauso viele junge Frauen gehen an die Uni und verlassen diese mit mindestens so guten Abschlüssen wie ihre Kommilitonen. Trotzdem klebt die Lohnlücke seit Anfang der 2000er-Jahre hartnäckig bei gut 20 Prozent. Mit massiven finanziellen Nachteilen für die weibliche Hälfte der Bevölkerung.
Wenn es um die Gründe für die Gender Pay Gap geht, wird der Fokus vor allem auf das Thema Kinderbetreuung gelegt. Schließlich sind es noch immer vornehmlich Frauen, die für die Familie längere Auszeiten vom Beruf nehmen und dann häufig in Teilzeit wieder in den Job zurückkehren - beides schadet Karriere und Gehalt.
"Steigt der Frauenanteil in einem Beruf um zehn Prozent, sinkt das Gehaltsniveau um vier Prozent."
Doch es gibt einen weiteren Faktor, der die Lohnlücke mindestens genauso stark festbetoniert: die unterschiedliche Bezahlung in Berufen, die vor allem von Frauen ergriffen werden, und in Berufen, in die vor allem Männer streben. Viele Frauen, wenig Geld, viele Männer, viel Geld: Aktuellen Untersuchungen zufolge ist diese Formel mittlerweile für mehr als die Hälfte der Lohnlücke verantwortlich.
Frauen werden also doppelt benachteiligt. Zum einen verdienen sie grundsätzlich weniger als Männer - egal in welchem Job. Zum anderen liegt das Lohnniveau bei Berufen mit hohem Frauenanteil niedriger als in Männerberufen. Das betrifft dann zwar auch die wenigen Männer, die in weiblich geprägten Berufen arbeiten, aber zumeist ebenfalls Frauen.
Diese Art der Benachteiligung wird sehr viel weniger diskutiert, doch gerade in Deutschland ist sie von großer Bedeutung: Die Geschlechtersegregation bei Berufen ist enorm stabil; hierzulande ist besonders stark ausgeprägt, dass es bestimmte Männerberufe und bestimmte Frauenberufe gibt. Frauen werden Kindergärtnerin, Männer Elektroinstallateur. Frauen studieren Lehramt, Männer Maschinenbau. Diese klaren Geschlechterbilder sind fest in den Köpfen und Lebensläufen verankert.
Knapp 60 Prozent der berufstätigen Männer oder Frauen müssten ihren Beruf wechseln, wenn man in allen Berufen das gleiche Geschlechterverhältnis herstellen wollte wie das, das im Arbeitsmarkt insgesamt vorherrscht, haben Corinna Kleinert vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg und zwei Forscher-Kolleginnen berechnet. Dass viele typischen Frauenberufe niedriger entlohnt werden als typische Männerberufe, sei zu einem großen Anteil historisch bedingt, sagt die Soziologie-Professorin. Lange galt weibliche Berufstätigkeit in Deutschland schließlich nur als eine Art Übergangsbeschäftigung, bis sich die Frau als Hausfrau und Mutter ausschließlich ihrer Familie widmet. Der Job der Sekretärin oder der Krankenschwester wurde darum gar nicht erst darauf ausgelegt, langfristig Karriere zu machen und einen Lebensunterhalt zu sichern. Doch was ist mit den Berufen, die vor wenigen Jahrzehnten fast ausschließlich von Männern übernommen wurden, mittlerweile aber einen hohen Frauenanteil haben? Beispiele sind die Bereiche Jura, Medizin, das Lehramt, aber auch das Bäckerhandwerk oder die Gastronomie. Wie wirkt sich das auf das Gehaltsniveau aus?
Corinna Kleinert und ihre Forscher-Kolleginnen haben Arbeitnehmer-Daten für Westdeutschland über 35 Jahre analysiert. Das Ergebnis ist deutlich: Steigt der Frauenanteil in einem Beruf langfristig um zehn Prozentpunkte, dann sinkt das Gehaltsniveau um vier Prozent.
Das liegt, so die Schlussfolgerung der Forscherinnen, allerdings nicht daran, dass die Arbeit in diesen Berufen generell an Wertschätzung einbüßt. Nein, stattdessen würden Frauen grundsätzlich schlechter bezahlt - und je größer der Anteil der schlecht bezahlten Personen in einem bestimmten Bereich ist, desto niedriger ist der Durchschnittslohn. Kleinert und ihre Kolleginnen sehen keine "generelle Entwertung von Berufen", sondern eine "generelle Entwertung von Frauen im Beruf".
"Gewerkschaften sind vor allem dann gut für Frauen, wenn auch Frauen drinsitzen."
Daniel Oesch ist Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Lausanne. Auch er forscht zum Thema Lohnlücke und Frauenanteil. Während Kleinert und Co. betrachtet haben, was passiert, wenn ganze Berufe "das Geschlecht wechseln", hat Oesch sich angeschaut, was passiert, wenn Einzelpersonen von einem männlich geprägten Beruf in einen weiblich geprägten Beruf wechseln oder andersrum. Auch er stellt fest: In weiblich geprägten Domänen wird schlechter gezahlt. Ab einem bestimmten Schwellenwert sinkt die Entlohnung von Frauenberufen besonders drastisch, zeigen die Daten. Dieser Schwellenwert liegt bei 60 Prozent. "Bei diesem Wert wird aus einem geschlechtsneutralen Beruf ein typischer Frauenberuf. Dann ändert sich offenbar die Vorstellung darüber, was eine angemessene Entlohnung ist", sagt Oesch. Es gebe deutliche Hinweise darauf, dass Frauenberufe gesellschaftlich geringer geschätzt werden.
Oeschs Studie zeigt einen deutlichen Unterschied zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Bereich: In Unternehmen wird Frauenarbeit im Verhältnis schlechter entlohnt als in staatlichen Institutionen. Eine deutsche Besonderheit: Ein größerer Teil der Löhne ist durch Tarifverträge bestimmt. Im Vergleich mit Großbritannien und der Schweiz, so Oesch, trage das dazu bei, dass die Unterschiede in der Bezahlung kleiner ausfallen.
Corinna Kleinert wendet ein, dass auch in den Tarifverträgen viele Frauenberufe niedriger eingruppiert sind als Männerberufe. Diese Lohnungerechtigkeit sei damit für große Gruppen zementiert. Wann immer sich Gewerkschaften und Arbeitgeber an den Verhandlungstisch setzen, orientieren sie sich am bisherigen Niveau des Tarifvertrags. Selbst wenn für Lohnerhöhungen gekämpft wird, würden Fortschritte immer nur auf einem niedrigeren Niveau erreicht, so Kleinert. "Gewerkschaften sind vor allem dann gut für Frauen, wenn auch Frauen drinsitzen."
Auch eine weitere deutsche Besonderheit sorge für eine starke Segregation und damit ein zementiertes Lohngefälle: das Ausbildungssystem. "So lobenswert das in vieler Hinsicht auch sein mag, es führt dazu, dass sehr früh eine Berufsentscheidung getroffen wird", so Kleinert. Gerade als 16-Jährige, als 17-Jähriger orientiere man sich noch stark an den Erwartungen des Umfelds. Hier braucht es schon sehr viel Mut, als Mädchen zu sagen: "Ich werde Kfz-Mechanikerin." Im weiteren Verlauf sorge die Ausbildung dann für eine starke Spezialisierung - was es später erschwere, noch einmal den Beruf zu wechseln.
Dass angesichts dieser düsteren Aussichten also doch jede Frau auf eigene Faust ihr Gehalt verhandelt, ist dennoch keine Lösung. Gegen die Ungerechtigkeit des Systems könne eine Einzelne nur schwer etwas tun, sind Oesch und Kleinert überzeugt. Schließlich orientierten sich Frauen und Arbeitgeber immer am bestehenden Lohnniveau.
Tatsächlich nimmt die Lohnlücke weiter zu, je höher das Berufsniveau ist - und damit der Anteil der frei verhandelbaren Löhne. Das zeigen auch die Daten des Jobportals Experteer. Beim Berufseinstieg liegen die Frauen sogar noch minimal vorn. Doch schon ab der nächsten Entwicklungsstufe bekommen die männlichen Kollegen mehr Gehalt. Auf Projektmanagement-Level sind es bereits zehn Prozent mehr, beim Topmanagement schließlich 30 Prozent. "Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Forschung, dass tatsächlich ein gar nicht kleiner Teil der Lohnlücke auf die Topverdiener zurückzuführen ist", sagt Kleinert.
Wenn sich die geringere Wertschätzung von Frauenarbeit derart festgesetzt hat in den Tarifverträgen, auf den Gehaltskonten und in den Köpfen der Menschen, was kann man noch dagegen tun?
Ein simpler Trick wäre, dass sich mehr Frauen besser bezahlte Jobs in Männerdomänen suchen. Doch bei der Berufswahl anzusetzen, erweist sich als besonders kniffelig: "Die Forschung zeigt, dass diese Präferenzen unglaublich früh entstehen. Singuläre Maßnahmen wie ein Girls Day ändern daran so gut wie nichts", sagt Kleinert. Und niemand will schließlich einem Mädchen vorschreiben, Ingenieurin statt Hebamme zu werden. Außerdem haben weiblich konnotierte Tätigkeiten ja durchaus einen hohen Wert für die Gesellschaft, unabhängig von der miesen Entlohnung.
Es soll mehr Transparenz darüber geben, für welche Arbeit wie viel gezahlt wird
Wem eine faire Bezahlung von Frauen am Herzen liegt, der sollte sich eher darauf konzentrieren, dass die Berufe, in denen vor allem Frauen tätig sind, besser bezahlt werden. Besonders groß ist das Missverhältnis im Bereich der Care-Arbeit. Da angesichts der Erfahrungen in den vergangenen Jahren nicht absehbar ist, dass sich das Problem über die Marktwirtschaft löst, sind Politik und Gesellschaft gefragt.
Von der Einführung des Mindestlohns zum Beispiel haben viele Frauen profitiert, wie sich nach dem ersten Jahr gezeigt hat, schließlich sind eine Reihe der am schlechtesten bezahlten Berufe weiblich besetzt.
Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) hat den Entwurf für ein Entgeltgleichheitsgesetz vorgelegt - das nun in den Mühlen der großen Koalition unterzugehen droht. Die Idee dahinter: Die Unternehmen sollen Rechenschaft ablegen, was sie tun, um "erwiesene Entgeltdiskriminierung" zu beseitigen. Zudem soll es mehr Transparenz darüber geben, für welche Arbeit wie viel gezahlt wird. In der Theorie beides geeignete Maßnahmen, um Frauen zu faireren Löhnen zu verhelfen. In der Praxis wird die Idee wohl an fehlenden Sanktionsmöglichkeiten scheitern.
Soziologin Kleinert setzt auf aktuelle Forschungsprojekte, die akribisch die Anforderungen verschiedenster Tätigkeiten aufschlüsseln. "Bislang wurde zum Beispiel die psychische Belastung viel zu wenig berücksichtigt. Sind diese neuen Tools fertig, werden auch so unterschiedliche Jobs wie technische Berufe und Pflegeberufe vergleichbar." Das habe zwar vor allem symbolischen Charakter, so Kleinert, dennoch könne eine gesellschaftliche Diskussion angestoßen werden.
Und die ist zwingend nötig, so tief, wie die Geringerschätzung weiblich geprägter Berufstätigkeiten nicht nur im Wirtschafts-, sondern auch im Wertesystem der Gesellschaft verankert ist. Wenn sich hier nichts tut, dann werden nicht nur die aktuell arbeitenden Frauengenerationen systematisch finanziell benachteiligt, sondern auch noch einige weitere. Geht es im bisherigen Schneckentempo weiter, wird es bis zur Lohngerechtigkeit zwischen den Geschlechtern nämlich noch bis zum Jahr 2133 dauern.