Gehälter:Tarif und Tatsache

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Obwohl die Tarifgehälter im vergangenen Jahr gestiegen sind, stagnieren die Brutto-Einkommen. Denn nicht alles, was vereinbart wurde, kommt bei den Beschäftigten auch an.

Durch den Ausstieg aus Flächentarifverträgen, eine steigende Zahl von Öffnungsklauseln und Minijobs klaffen tarifliche und tatsächliche Lohnerhöhungen immer weiter auseinander. Zwar stiegen die Tariflöhne und -gehälter 2004 im Schnitt um zwei Prozent, doch die effektiven Bruttoeinkommen stagnierten mit einem Zuwachs von nur 0,1 Prozent, wie Reinhard Bispinck, Tarifexperte der gewerkschaftsnahen Hans Böckler Stiftung, am Donnerstag in Berlin berichtete. "Das heißt: Längst nicht alles, was tariflich vereinbart wird, kommt auch bei den Beschäftigten an." Bispinck verwies auf den Trend zu betrieblichen Regelungen, die Teile der Branchenabschlüsse wieder kassierten.

Insgesamt schlossen die Gewerkschaften 2004 nach Berechnungen des stiftungseigenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) Tarifverträge für rund 6,9 Millionen Beschäftigte in Westdeutschland und für eine Million Arbeitnehmer im Osten ab.

Dabei belief sich die bundesweite Lohnsteigerung bei den Neuabschlüssen im Schnitt auf 1,6 Prozent; weil aber günstigere Abschlüsse des Vorjahres zum Teil erst 2004 wirksam wurden, fiel die Rate für das Kalenderjahr um 0,4 Prozentpunkte höher aus. Im Westen stiegen die Tarifeinkommen 2004 um insgesamt 1,9 Prozent und in den neuen Ländern um 2,5 Prozent.

Die höchsten Zuwächse verbuchten 2004 demnach mit bundesweit jeweils 2,4 Prozent Banken und Versicherungen sowie das Baugewerbe, gefolgt vom Investitionsgütergewerbe mit 2,3 Prozent.

Schlusslichter waren Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft, die Energie- und Wasserversorgung sowie der Bergbau mit je 1,7 Prozent.

"2004 war aus Sicht der Gewerkschaften kein Jahr der tarifpolitischen Erfolge oder der tarifpolitischen Durchbrüche", bilanzierte Bispinck. Die Gewerkschaften hätten insbesondere die bestehenden Löhne und Arbeitszeiten verteidigen müssen - nicht immer mit Erfolg. So gelte zwar laut Flächentarifverträgen im Schnitt die 37,4-Stunden-Woche im Westen und die 38,9-Stunden-Woche im Osten, doch dies "weicht beträchtlich von dem ab, was tatsächlich in den Betrieben gearbeitet wird". Die effektive Wochenarbeitszeit liege wegen des steigenden Anteils nicht tarifgebundener Unternehmen und infolge von Öffnungsklauseln jeweils um zwei Stunden höher.

Für das laufende Jahr wollte Bispinck unter anderem mit Blick auf die besonders schwierigen Verhandlungen im Öffentlichen Dienst keine Prognose zur Gehaltsentwicklung wagen. Während im vergangenen Jahr vor allem die Auseinandersetzungen um Arbeitszeiten und betriebliche Bündnisse für Arbeit in der Metall- und Elektrobranche das Bild geprägt hätten, werde 2005 in erster Linie die angestrebte "Superreform" im Öffentlichen Dienst für Diskussionsstoff sorgen.

Für die Privatwirtschaft, wo 2005 unter anderem in der Chemieindustrie sowie im Groß- und Einzelhandel Tarifrunden anstehen, bleibe abzuwarten, ob der Trend zu "Zweitverhandlungen auf betrieblicher Ebene" weiter anhalte, sagte der Tarifexperte.

Laut IG Metall habe sich die Zahl der Firmentarifverträge in ihrer Branche in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht; der Anteil von Tarifverträgen mit betrieblichen Sonderregelungen liege inzwischen bei 70 Prozent. Allein im vergangenen Jahr wurden demnach in der Metallindustrie 390 von den Flächentarifen abweichende Vereinbarungen getroffen - darunter bei Siemens und DaimlerChrysler.

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