Frankreichs Jugend:Geformt, begleitet, betreut

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Anders als 1968 protestieren heute Professoren und Eltern mit den Studenten. Doch letztlich führt dieses Verhätscheln dazu, den Jungen den Schnabel zu stopfen.

deutsch von Alex Rühle

Um gleich mal den Schatten von 68 zu vertreiben, der angeblich über den Studentenprotesten gegen das Erstanstellungsgesetz (CPE) schwebt: Damals, im Mai, hätte es diese Bilder schlichtweg nicht gegeben, junge Leute, die sich brav bei den Ordnungskräften des französischen Gewerkschaftsbundes CGT unterhaken. Seinerzeit war die CGT der verlängerte Arm der Kommunistischen Partei Frankreich, die selbst moskauhörig war, und alle zusammen wurden sie von den Linksextremen zu Recht als "stalinistischer Pöbel" beschimpft. Professoren und Universitätsrektoren wurden harsch zurechtgewiesen, man ignorierte ihre Titel, sprach sie, ausnehmend demokratisch, als "Kameraden" an und duzte sie; das hatte man sich bei den roten Garden und der Kulturrevolution abgeschaut.

Frankreichs Jugend auf der Straße (Foto: Foto: dpa)

Was die Jugend damals mit aller Kraft bekämpfte, waren überkommene Umgangsformen und Autoritätspersonen, die der Emanzipation im Wege standen. Man war also besser dran, wenn man kein Unternehmer, Vater, Intellektueller oder Generalsekretär war, und was den Vater der Nation, de Gaulle, angeht, so war es nur folgerichtig, dass man seinen Kopf forderte. Ziel der ganzen Aktion war, all diese Größen vom Thron zu stoßen, um der Phantasie zur Macht zu verhelfen, man könnte auch sagen, einer virtuellen Macht. Das war in höchstem Maße wirklichkeitsfremd; wir hatten vergessen, dass Macht immer die Negation der Phantasie ist.

Was kann ich für dich tun?

Heute kann man den Professoren und Universitätsrektoren dabei zusehen, wie sie ihre Studenten im Protest unterstützen und ihre Institute als Zeichen der Solidarität eigenhändig zusperren. Es wirkt geradezu, als wollten sie ihre Erfahrungen als Aktivisten aus ihrer Studienzeit all diesen unerfahrenen jungen Menschen andienen. Und es ist ja wahr, dass die Studenten in ihren Erklärungen Zeugnis ablegen von einer recht rudimentären Dialektik, ja eigentlich besteht diese Dialektik nur in der mantra-artigen Wiederholung des Wortes "précarité" (Unsicherheit).

Da sie über keinerlei ideologisches Rüstzeug verfügen und bisher nie politisch aktiv waren - die allgemeine Diskreditierung der Politik und der Triumph des Konsumismus haben ganze Arbeit geleistet -, verlassen sie sich völlig auf die Gewerkschaften, die den Widerstand schon organisieren werden. So springen die Eltern als alte Kombattanten ihren Kindern bei, gehen mit ihnen auf die Straße, geeint im völlig überzogenen Protest gegen die Maßnahmen der Regierung, und führen ein nostalgisches und fantasmagorisches Remake ihrer jungen Jahre auf.

Doch genau dieses generationenübergreifende Einverständnis ist die Ursache für die Malaise der Jugendlichen. Die heutige Generation der Eltern hat die Autorität ihrer Väter in solchem Maße in Frage gestellt, dass sie, als sie dann selber Eltern wurden, sich derart verständnisvoll und freizügig verhielten, dass am Ende dabei Kinder herauskamen wie dieser Tanguy aus Etienne Chatillez" gleichnamigem Film, ein junger Mann, der trotz all seiner Diplome und obwohl er längst auf die 30 zugeht, keinerlei Interesse daran hat, aus dem Haus seiner Eltern auszuziehen. Warum sollte er auch? Er bekommt Kost und Logis, er kann nach Hause mitbringen, wen immer er will, seine Eltern erfüllen ihm jeden Wunsch und vermeiden tunlichst alles, was auch nur von ferne an einen Konflikt erinnern könnte, um nur ja nicht als die Autoritätspersonen auftreten zu müssen, die ihnen stets so verhasst waren.

Das Establishment hockt auf seinen Pfründen

Letztlich führt dieses Verhätscheln aber dazu, den Jungen den Schnabel zu stopfen: Die argumentative Armut im theoretischen Diskurs der Jungen verhält sich umgekehrt proportional zu ihrem Markenbewusstsein und ihrer Kenntnis in Sachen technischer Innovationen. Bei dem, was ihnen wie ein Mangel an Streitkultur erscheint, kommen ihnen ihre gütigen Eltern einmal mehr zu Hilfe, bieten ihren geliebten Kindern ihren Dienst an und reden an ihrer Stelle.

So steht es auch im Gesetz: Junge Menschen werden bis zum Alter von 26 Jahren als Kinder angesehen, denen man keine große Verantwortung übertragen kann, die geformt, begleitet, betreut und unter Schutz gestellt werden müssen und die man von einem auf den anderen Tag zurückschicken kann zu ihren Studien wie ein Schulkind. Das Gesetz hat den gesellschaftlichen Wunsch, dass alle immer später ins aktive Arbeitsleben eintreten, juristisch zementiert (nebenbei: La Perouse wurde mit 14 Jahren Fregattenkapitän, Napoleon mit 24 General).

Und aus einem simplen Grund verträgt die Verherrlichung der Jugend, die die ganze Gesellschaft anstimmt (siehe hierzu Jack Lang, Präsidentschaftsanwärter und mit seinen fast 70 Jahren immer noch davon überzeugt, das ewige Verlangen der Jugend zu verkörpern), sich nicht mit einem Generationenwechsel. Das Establishment hockt auf seinen Pfründen und gibt seinem Dominanzanspruch eine amtliche Bestätigung. Frankreich ist eine Republik aus Alternden, die sich darüber wundern, dass die Jugendlichen sich weigern, ihren faustischen Pakt zu unterschreiben.

Der Autor ist Schriftsteller und lebt bei Nantes. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt der Essay "Schreiben heißt, jedes Wort zum Klingen bringen" (Schirmer/Graf Verlag, 2004).

© SZ vom 29. März 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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