Frankreich:Keine Zeit zum Geld verdienen

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In Frankreich bricht die "neue Faulheit" aus. Jeder zweite Franzose ist bereit, für mehr Freizeit auf einen Teil seines Einkommens zu verzichten.

Und wieder einmal fährt Jean-Jacques Nasibian vor seiner kleinen provenzalischen Villa in Saint-Raphael an der Côte d'Azur vor. "Ja, da wären wir wieder", sagt der Informatiker aus La Celle Saint-Cloud bei Paris lachend, "die 35-Stunden-Woche macht es möglich."

Sonnenanbeter an der Côte d'Azur (Foto: N/A)

Wie der gut 50-jährige Nasibian nimmt auch der mehr als drei Jahrzehnte jüngere Diplom-Ingenieur Olivier Richard den Job auf die ganz leichte Schulter: "Ich habe jetzt mein "freies Vierteljahr" und gehe auf Reisen. Wenn man mit wenig Geld auskommt, klappt das." In Frankreich bricht die "neue Faulheit" aus, wie Fachleute den Trend getauft haben. Sie sprechen von einer gesellschaftlichen Revolution.

"Leben wie Gott in Frankreich", das scheint heute die endgültige Abkehr von alten Arbeitstugenden, vom Abstrampeln für die Karriere und die möglichst hohe Rente zu bedeuten.

Wer will denn überhaupt noch arbeiten?

Jung und alt, Arbeiter und höhere Angestellte geben dem Wunsch nach, so wie Olivier Richard "der eigene Herr über die 24 Stunden des Tages zu sein" - und davon nicht allzu viel mit Geldverdienen zu verplempern. Der Frührentner Gérard Lauzel etwa "genießt das Leben nach 30 Jahren im selben Betrieb".

An die 500.000 machen es inzwischen in Frankreich genau so wie er. Und die Jüngeren probieren unterdessen ausgiebig aus, wie flexibel ihre Firma denn ist. Ob es ihnen dort überhaupt passt. Sonst gehen sie.

"Das Leben ist zu kurz, um es nicht auszukosten", nach diesem Motto ist die gesellschaftliche Umwälzung in vollem Gang. Mindestens jeder zweite Franzose ist nach Umfragen bereit, für mehr Freizeit auf einen Teil seines Einkommens zu verzichten - und viele verwirklichen diesen Traum.

"Sie haben entdeckt, dass es doch ein Leben jenseits der Arbeit gibt", erläutert der Soziologe Dominique Vastel. Und sein Sorbonne-Kollege Michel Maffesoli ergänzt: "Arbeit ist nicht mehr das große Dogma." Der Weihnachtsmann als Vorbild, der nur an einem Tag im Jahr arbeitet und dabei gut auskommt? "Wer will denn überhaupt noch arbeiten?", fragte auch das Wochenmagazin "Le Nouvel Observateur".

Recht auf Freizeit

"Die 1997 von der rotgrünen Regierung auf den Weg gebrachte 35-Stunden-Woche ist aus der französischen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken", stellt der Arbeitsfachmann Gilles de Robien nüchtern fest.

Diese Umwälzung ist es jedoch nicht allein. Getragen von einer (noch) blühenden Wirtschaft proben französische Firmen seit Jahren, wie flexibel sie werden können. Vorruhestands- und Teilzeitmodelle, äußerst biegsame Überstundenregelungen, dazu weniger Präsenzpflicht in der Zentrale der Firma und freie Arbeitseinteilung zu Hause - da kommt Freizeit voll zu ihrem Recht. "Vor allem Jüngere fragen heute sofort nach Urlaubs- und Arbeitszeitregelungen", erklärt ein Experte.

Der Lebensstandard sinkt

Konservative Politiker können da lange über ein "Negativ-Image" der Arbeit klagen. Weit weniger Franzosen im arbeitsfähigen Alter haben heute im Vergleich zu Deutschen, Briten und Amerikanern noch einen Job. Die "neue Freizeitgesellschaft" könnte allerdings von dem Schicksal der Grille in La Fontaines Fabel heimgesucht werden, die in miesen Zeiten plötzlich nichts mehr zu beißen hat.

Im Schnitt ist der Lebensstandard in Frankreich schon gefallen. "Wir haben aber nur die Freizeit gewählt statt mehr Geld", halten die "neuen Faulen" dagegen.

(sueddeutsche.de/dpa, Hanns-Jochen Kaffsack)

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