EuGH-Urteil:Kliniken müssen bis zu 27.000 Ärzte einstellen

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Auf das deutsche Gesundheitswesen kommen nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeit von Klinikärzten enorme Kosten zu.

Von Kristina Läsker und Judith Reicherzer

(SZ vom 10.9.2003) Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist der Bereitschaftsdienst von Ärzten in Krankenhäusern vollständig als Arbeitszeit anzuerkennen. Dies gelte auch, wenn die Ärzte während der Zeit die Möglichkeit zum Schlafen hätten, entschieden die Richter am Dienstag in Luxemburg. Entscheidend sei, dass der Arbeitnehmer sich an einem bestimmten Ort zur Verfügung halten müsse.

Bereits im Oktober 2000 hatte der EuGH in einem spanischen Verfahren ähnlich entschieden. Die Deutschen hatten die Entscheidung ignoriert und an den Regeln im nationalen Arbeitszeitgesetz festgehalten. Danach galt der Bereitschaftsdienst als Ruhezeit. Der Kieler Krankenhausarzt Norbert Jaeger, der wie viele seiner etwa 140.000 Klinikkollegen regelmäßig Bereitschaftsdienste bis zu 25 Stunden leistete, wehrte sich dagegen und zog mit Unterstützung des Marburger Bundes vor den EuGH.

"Ein historischer Sieg"

Das Urteil gilt zunächst nur für Beschäftigte mit öffentlich-rechtlichen Arbeitsverträgen, weil europäische Richtlinien bei Verträgen zwischen Privatpersonen nicht unmittelbar greifen. Solange es kein neues eindeutiges Gesetz gibt, ist die Rechtslage für Beschäftige an Privatkliniken umstritten.

Einen "historischen Sieg für die deutschen Klinikärzte" nannte der Chef des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, das Urteil. Die Entscheidung, von der in Deutschland mehr als 2200 Krankenhäuser betroffen sind, werde "massive finanzielle und personelle Auswirkungen" nach sich ziehen. Von einem "Ende der Ausbeutung" sprach Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer.

Die Verbände rechnen damit, dass 15.000 zusätzliche Arztstellen benötigt werden. Sollte der Bereitschaftsdienst wegfallen, müssten bis zu 27.000 Mediziner eingestellt werden, sagte ein Sprecher der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Dafür würden laut Marburger Bund eine Milliarde Euro in den nächsten drei Jahren benötigt. Eine Sprecherin der EU-Kommission zitierte Schätzungen der Bundesregierung, wonach die Umsetzung des Urteils sogar bis zu zwei Milliarden Euro kosten könnte.

Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) kündigte an, das Urteil der EU-Richter "schnellstmöglich" umzusetzen, damit in den Kliniken Rechtssicherheit" einkehre. Clement wies zugleich darauf hin, dass die Entscheidung des Gerichts, Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit einzustufen, nicht nur Krankenhäuser, sondern auch andere Branchen betreffe, in denen es eine "vergleichbare Arbeitsorganisation" gebe. So seien auch Pflegeberufe und Feuerwehren betroffen, sagte ein Ministeriumssprecher.

Nähere Angaben zu Berufsgruppen und zu erwartenden Kosten machte er nicht. Clement will die "erforderlichen Änderungen" in den bereits vorliegendes Gesetzentwurf zur Arbeitsmarktreform einbauen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi forderte die Umsetzung des Urteils auch in der Privatwirtschaft.

"Mittelfristig höhere Kosten"

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sagte, dass die EuGH-Entscheidung Kliniken und Ärzte nicht unvorbereitet treffe. So hätten viele Krankenhäuser bereits "die Voraussetzungen geschaffen, um die Konsequenzen aus dem Urteil ziehen zu können". Schmidt wies darauf hin, dass das Gesundheitsministerium den Kliniken für die Jahre 2003 und 2004 bis zu 200 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt habe. Die Gesundheitsreform sehe außerdem eine Aufstockung um jährlich 100 Millionen vor. Vom Jahr 2009 an stünden den Kliniken somit 700 Millionen Euro zur Verfügung, um die Arbeitszeitorganisation anzupassen. Das Urteil sei keine Gefahr für das Ziel der Gesundheitsreform, die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung zu senken.

Bei den Verbänden wird dies skeptischer gesehen. "Mittelfristig können höhere Kosten auf die Krankenkassen zukommen", sagte ein DKG-Sprecher. Nach Ansicht des Marburger Bundes entsprechen die zu erwartenden Kosten einer Beitragssteigerung von 0,1 Prozentpunkten.

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