EU:Heilbutt maltesisch?

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Seit der EU-Erweiterung rotieren die Übersetzer in Brüssel.

Von Kristina Läsker

Für Ian Andersen ist es das Schwierigste, die richtigen Worte zu verschweigen. Seit 18 Jahren dolmetscht der Däne für die Europäische Kommission in Brüssel. "Wenn ich aus dem Italienischen ins Dänische übersetze, lasse ich erst mal zwanzig Prozent weg", sagt er. Zwanzig Prozent italienische Rhetorik, zwanzig Prozent südländische Dramatik. Würde Andersen Wort für Wort übersetzen, so sagt er, würden die wortkargen Dänen den Italiener "für einen Schaumschläger halten."

Als Simultanübersetzer sorgt Andersen dafür, dass Europa sich besser versteht. Ob in Brüssel, Straßburg oder anderswo, täglich erklären 450 festangestellte und bis zu 300 freiberufliche Dolmetscher auf Konferenzen und Sitzungen die Anliegen der EU-Kommission. Von Tiertransport bis CO2-Ausstoß: Die Themen sind komplex, die Fachwörter üppig, die Konzentration der Dolmetscher immens. Keiner darf bei mehr als 18 Treffen in zwei Wochen übersetzen. "Das Ergebnis wäre Murks", erklärt Andersen.

Nun ist die Komplexität nochmals gewachsen: Mussten die Dolmetscher bisher mit elf Amtssprachen jonglieren, so sind es seit Anfang der Woche knapp doppelt so viele. Neun Sprachen sind mit der EU-Erweiterung am 1. Mai dazugekommen. "Eine Herausforderung" sagt Andersen - und drückt damit wortkarg-dänisch aus, wie schwierig es ist, genügend geeignete Sprachtalente zu finden.

Seit vergangenem Herbst sucht die Kommission nach Leuten. Mithilfe der "Concours", den marathonartigen Bewerbungsverfahren, wollte die Kommission vierzig Übersetzer pro Sprache finden. Gelungen ist das nicht. Für fast alle Sprachen fehlen Mitarbeiter. Nur für Polnisch fanden sich genügend Interessierte. "Kein Wunder", sagt Andersen. "Mit vierzig Millionen Einwohnern ist Polen das größte Beitrittsland." Maltesische Muttersprachler hat die Kommission nur drei eingestellt. Gebraucht werden 13 Mal so viel. Und angesichts der nur 400.000 Einwohner auf Malta denkt sich mancher in der EU, wie absurd es war, der Hartnäckigkeit der Inselpolitiker nachzugeben und Maltesisch zur Amtssprache zu erklären, obwohl die meisten Bewohner der Mittelmeerinsel ohnehin Englisch sprechen. "Das Schöne an Europa ist die Vielfalt - auch die der Sprachen", erklärt Andersen die offizielle Linie. Es klingt wenig enthusiastisch.

Doch dass Andersens "EU der Vielfalt" meist von nationalen Interessen geleitet wird, zeigten jüngst die französischen Medien. Durch den Beitritt der osteuropäischen Länder schwindet der Einfluss des Französischen, kritisierten sie und forderten formale Abhilfe. Andersen bestätigt die Sorge der Franzosen: "Von den Bewerbern aus dem Osten haben die meisten als erste Sprache Englisch gelernt, nicht Französisch."

Wer zuletzt lacht . . .

Vielleicht muss man so aufgewachsen sein wie der 46-jährige Däne, um das babylonische Sprachengemisch in Brüssel als Freude und nicht als Bedrohung zu empfinden. Als er sieben war, schickten ihn die Eltern auf die Internationale Schule in Kopenhagen. Dort lernte Andersen von Beginn an Englisch. "Ich habe jung angefangen." Später ging er in die USA. Verheiratet ist er mit einer Britin, mit der er einen Sohn und eine Tochter hat. Es ist wohl typisch für einen wie Andersen, dass er eine mehrsprachige Familie gegründet hat. Und es erklärt, warum der Däne auch ins Englische übersetzt. Eine Ausnahme unter den Dolmetschern: "Die meisten dürfen nur in ihre Muttersprache übersetzen", sagt er. Nach jahrelangem Dolmetschen ist Andersen nun einer von 21 Referatsleitern und dolmetscht nur noch einmal im Monat, "wenn's brennt". Denn: Die Liste seiner Sprachen ist lang. Seine Arbeitssprachen sind Französisch, Italienisch, Schwedisch und Norwegisch. Auch Deutsch und Mandarin versteht er; Andersen hat lange Sinologie und Politik studiert.

Ungern erinnert sich der Däne an die Konferenz, in der ein EU-Kommissar unangekündigt über die Fangrechte für Grönland-Heilbutt in Kanada sprach - auf Französisch. Und Andersen, der von diesem Fisch noch nie gehört hatte, musste improvisieren. Musste über eine halbe Stunde Sätze sagen wie "der Fisch, um den hier gestritten wird" oder "das Tier, das nicht gefangen werden darf". Vergeblich hoffte er auf seine Kollegen: Niemand erkannte seine Not, niemand betrat die kleine Übersetzerkabine, um den korrekten dänischen Fachausdruck zu liefern. "Man muss dann einfach abstrahieren", sagt Andersen und lächelt gequält. "Sie dürfen ja nichts dazu erfinden." Und wenn ein Abgeordneter einen Witz macht, der sich nicht übersetzen lässt? "Dann erklärt man eben: Herr Sowieso macht einen Witz. Dann lachen die meisten schon."

Doch das mit den Witzen dürfte schwieriger sein. Oft verzögert sich die Übersetzung um entscheidende Sekunden. Da es kaum jemanden gibt, der Kombinationen wie Finnisch-Maltesisch oder Dänisch-Portugiesisch beherrscht, benutzen die Dolmetscher Zwischensprachen. So geht das Finnische erst ins Englische - und dann ins Maltesische. Bis der Witz bei den Maltesern ankommt, lachen die Finnen und Engländer bereits nicht mehr. Eine Situation, die Zuhörer irritiert - und die ein Dolmetscher ausgleichen muss. Dieser Ausgleich funktioniere, so Andersen, besonders bei Verbalinjurien: "Wenn ein Abgeordneter damn shit sagt, übersetzen Sie eben nur shit. Das tut der Atmosphäre gut."

© SZ vom 5.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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