Estland:Tigersprung zwischen den Generationen

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Estland setzt in der Forschung starke Prioritäten, damit Wissenschaftler jenseits der 70 endlich in Rente gehen können.

Von Christina Berndt

Es ist nicht gerade ein väterliches Verhältnis, das die Physiker in Estlands Wissenschaftshauptstadt Tartu zu ihren jungen Studenten haben. Es ist eher ein großväterliches. 70 Jahre - das ist kein Alter für einen Wissenschaftler am einstmals renommierten Institut für Physik der Universität Tartu. Jeder dritte Forscher bessert hier hinter Laserspektroskopen und Interferometern seine karge Rente auf.

Und gebraucht werden die Alten sowieso, nicht nur in der Universitätsstadt im Südosten Estlands, sondern in ganz Osteuropa. Schließlich ist der akademische Mittelbau längst auf und davon. Wer nach dem Zerfall des Ostblocks jung und beweglich genug war, ging in den Westen oder wurde Geschäftsmann. "Früher haben bei uns mehr als 250 Wissenschaftler gearbeitet, jetzt sind es noch 70", sagt der Direktor des Instituts, Ergo Nommist, der selbst immerhin erst in den Vierzigern ist. "Wir haben weitaus mehr Stellen als gute Leute."

Die Weltbesten sein

Das aber könnte bald wieder von Vorteil sein. Denn entsprechend offen sind die Türen jetzt wieder für eine wissenschaftliche Karriere. Noch dazu hat Estland seit der Unabhängigkeit kräftig in seine Wissenschaft investiert. Allein in den letzten drei Jahren sind die Forschungsausgaben in der kleinen Baltenrepublik um fast die Hälfte gestiegen. Bis zum Jahr 2006 soll noch einmal genauso viel dazukommen, verspricht Kristjan Haller, Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft und Bildung. Dann hätte Estland einen Anteil der Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 1,5 Prozent erreicht - und läge etwa im EU-Durchschnitt. "Estland will als Wissenschaftsstandort zum leuchtenden Vorbild werden", sagt Haller.

Leuchtend gibt sich die Universität Tartu schon jetzt. In frischem Weiß strahlt der klassizistische Palast aus der ansonsten noch sowjetisch-grauen Stadt heraus. Schon vor fast 400 Jahren wurde diese Universität gegründet. Weil sie aber nicht älter sein durfte als die Moskauer Lomonossow-Universität von 1755, wurde ihr Gründungsdatum während der SU-Zeiten kurzerhand 150 Jahre nach hinten verlegt.

Heute feiern die estnischen Wissenschaftler wieder selbstbewusst ihre traditionsreiche Alma Mater. Dafür steht ebenso trotzig wie der makellos weiße Bau sein Rektor Jaak Aaviksoo. Der blonde Hüne Aaviksoo hofft sogar, mit guter Wissenschaft Fremde nach Tartu locken zu können. Bisher sind allerdings nur 400 der 18.000 Studenten aus dem Ausland - die meisten davon aus dem nahen Finnland, aus Schweden und aus Deutschland. Wenn die Professoren in Tartu vom Ausland reden, blicken sie fast nur noch nach Westen. "Kooperationen mit Russland existieren fast gar nicht mehr", sagt Vladimir Hiznjakov, der am Institut für Physik der Materie ihre Geheimnisse zu entlocken versucht. "Ich kenne inzwischen mehr russische Physiker in Amerika als in Russland."

Trotz seiner großen Investitionen in die Wissenschaft maßt sich das kleine Estland mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern aber nicht an, auf allen Forschungsgebieten mithalten zu können. "Wir haben ganz gezielt Prioritäten gesetzt", sagt Jaak Aaviksoo und scherzt: "Weltbeste wollen wir natürlich in estnischer Geschichte und Kultur sein." Gleich danach aber sollen die Informationstechnologie kommen, die Materialforschung und die Biomedizin.

Online im Tante-Emma-Laden

In letzterer jedoch hat die Baltenrepublik gerade erst einen Dämpfer hinnehmen müssen. Denn das prestigeträchtige Estnische Genomprojekt muss von nun an kräftig abspecken. Vor drei Jahren waren die Forscher um den Biologen Andres Metspalu angetreten, zwei Dritteln aller Esten Blut abzunehmen und das Erbgut nach Genen für Volkskrankheiten wie Schlaganfall und Diabetes abzusuchen. Doch bisher sind lediglich 10.000 Proben gesammelt worden. Und für dieses Jahr hat der amerikanische Hauptsponsor EGeen gerade mal das Geld für weitere 5000 Proben zur Verfügung gestellt. "Wir Grundlagenforscher und die Industrie haben eben verschiedene Erwartungen", sagt Metspalu resigniert.

In der Informationstechnologie allerdings gilt Estland sogar weltweit als Vorreiter. Die Republik garantiert allen Bürgern den kostenlosen Zugang ins Internet. Etwa 700 frei zugängliche WLAN-Points gibt es in Postämtern, Behörden oder auch in Tante-Emma-Läden. Und die Esten nutzen sie: Inzwischen wickeln sie fast 90 Prozent aller Bankgeschäfte online ab und erledigen auch die meisten Behördengänge via Internet. Zwei von drei Esten haben ein Handy, mit dem sie sogar in vielen Kneipen und Kinos bezahlen können. Vielleicht hat die Regierung ihren Mund doch nicht zu voll genommen, als sie ihr Computerisierungs-Projekt "Tiigrihüppe" nannte - zu deutsch: Tigersprung.

© SZ vom 30.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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