Erzieherinnen im Streik:Abschied von der Spaß- und Basteltante

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Mehr Geld allein reicht nicht: Psychologin Marleen Thinschmidt erforscht die Arbeitsbedingungen in Kitas und erklärt die Tücken des Berufs.

Julia Bönisch

In mehreren Bundesländern streiken Erzieherinnen für bessere Arbeitsbedingungen und einen Gesundheitstarifvertrag: Eine von der Gewerkschaft Verdi in Auftrag gegebene Studie ergab, dass sich nur 26 Prozent der Erzieherinnen vorstellen können, unter den jetzigen Arbeitsbedingungen gesund in Rente zu gehen. Die Psychologin Marleen Thinschmidt erforscht am Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der Technischen Universität Dresden die Arbeitsbedingungen der Erzieherinnen und erklärt, ob ihre Forderungen berechtigt sind.

Kindertagesstätte: Die Erzieherinnen kämpfen mit unbefristeten Streiks für bessere Arbeitsbedingungen. (Foto: Foto: ap)

sueddeutsche.de: Frau Thinschmidt, die Streikenden klagen über die hohen Arbeitsbelastungen und fordern einen Gesundheitstarifvertrag. Ohne ihn, so heißt es, würde nur ein Bruchteil der Erzieherinnen überhaupt bis zur Rente arbeiten können. Ist die Lage so dramatisch?

Marleen Thinschmidt: Jeder Berufstätige hat mit den für seinen Job typischen Belastungen zu kämpfen. Aber die Lage der Erzieherinnen ist tatsächlich schlecht. Natürlich gibt es hervorragend ausgestattete Kitas, die den Erzieherinnen ein tolles Arbeitsumfeld bieten. Aber es existieren eben auch solche, in denen katastrophale Zustände herrschen.

sueddeutsche.de: Die Arbeitgeberseite behauptet, die Forderung nach einem Gesundheitstarifvertrag sei nur vorgeschoben. In Wahrheit ginge es den Erzieherinnen um mehr Geld.

Thinschmidt: Die Erzieherinnen hätten sicher auch mehr Gehalt verdient, doch die Forderungen nach besserem Gesundheitsschutz sollten wir sehr ernst nehmen. Wir haben etwa herausgefunden, dass nur ein Bruchteil aller Erzieherinnen überhaupt die gesetzlich vorgeschriebene arbeitsmedizinische Betreuung angeboten bekommt und in Anspruch nehmen kann. Also weiß man derzeit gar nicht, ob sie gegen die für eine Kita relevanten Infektionskrankheiten geimpft sind. Genauso wenig gibt es in vielen Kitas einen geschulten Sicherheitsbeauftragten. Dass diese Zustände verbessert werden, sollte auch im Interesse der Eltern liegen.

sueddeutsche.de: Glaubt man der Gewerkschaft Verdi, haben nur 13 Prozent der Erzieherinnen während oder nach der Arbeit keine gesundheitlichen Probleme. Der Rest klagt unter anderem über Kopf- und Rückenschmerzen.

Thinschmidt: Das sind realistische Zahlen. Wir haben in unseren eigenen Untersuchungen herausgefunden, dass knapp 60 Prozent der Erzieherinnen über Rücken- und knapp 40 Prozent über Kopfschmerzen berichten. Hinzu kommen ebenfalls 40 Prozent, die Erschöpfung und Müdigkeit angeben. Diese Zahlen kennzeichnen eindeutig Überlastungssymptome. Das ist unter anderem der Arbeitsumgebung geschuldet: Ist in einer Kita kein erwachsenengerechtes Mobiliar vorhanden und müssen die Erzieherinnen auf Kinderstühlchen sitzen, leiden sie eben unter Rückenschmerzen. Auch die Lärmbelästigung ist ein großes Problem. Zu Spitzenzeiten, etwa wenn sich die Kinder zum Essen hinsetzen oder sich zum Spielen im Freien anziehen, herrschen in einer Krippe schnell mal 110 bis 120 Dezibel, dabei stören bereits Geräusche ab 55 Dezibel. Zu einem Hörschaden kann es ab 80 Dezibel kommen.

sueddeutsche.de: Gibt es weitere Belastungsfaktoren?

Thinschmidt: Ja, vor allem ungünstige organisatorische Rahmenbedingungen, wie etwa Pausenregelungen. In Extremfällen berichten Erzieherinnen, dass sie noch nicht einmal allein aufs Klo gehen können - immer haben sie ein Kind im Schlepptau. Außerdem spielen das Heben und Tragen der Kinder eine Rolle, die Belastung der Stimme durch lautes Rufen oder die hohe Verantwortung, die eine Erzieherin trägt. In der Regel sind Erzieherinnen außerdem emotional stark engagiert, sie bauen eine Beziehung zu den Kindern auf. Da kommt es zu Grenzerfahrungen. Einige Studienteilnehmerinnen haben von schrecklichen Situationen berichtet, in denen sie völlig ratlos und überfordert waren.

sueddeutsche.de: Haben Sie ein Beispiel?

Thinschmidt: Stellen Sie sich vor, eine Erzieherin muss ein Kind einem offensichtlich alkoholisierten Vater aushändigen, der mit dem Auto unterwegs ist. So etwas ist sicherlich nicht die Regel, kommt aber vor. Oder ein Kind leidet unter den Partnerschaftsschwierigkeiten seiner Eltern. Dann muss eine Erzieherin auch die Auseinandersetzung mit den Erziehungsberechtigten suchen - und ist dafür nicht immer gut gerüstet. Viel zu oft wird der Beruf einfach nur als der einer Spaß- und Basteltante beschrieben. Die Menschen unterschätzen die täglichen Anforderungen, die dieser Beruf mit sich bringt.

Psychologin Marleen Thinschmidt: "Die Ansprüche an Erzieherinnen sind in den letzten Jahren stetig gewachsen." (Foto: Foto: privat)

sueddeutsche.de: Leiden die Erzieherinnen unter diesem Image?

Thinschmidt: Ja, denn das hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun. Die Ansprüche sind in den letzten Jahren stetig gewachsen: Kitas sollen nicht nur "aufbewahren", sondern erziehen, einen Beitrag zur Integration leisten, auf die Schule vorbereiten und den Kindern Chancengleichheit in puncto Bildung und Gesundheit bieten. Zum Arbeitsalltag gehören also vor allem pädagogische Konzepte, das Anlegen von Portfolios der einzelnen Kinder, Beobachtungs- und Entwicklungsbögen und die Auseinandersetzung mit zum Teil sehr anspruchsvollen und widersprüchlichen Elternerwartungen.

sueddeutsche.de: An dem Streik beteiligen sich nur die Erzieherinnen kommunaler Einrichtungen. Wie ist die Situation in freien oder kirchlichen Kitas? Würden Sie Eltern empfehlen, ihre Kinder eher dort betreuen zu lassen?

Thinschmidt: Nein, man kann die Situation nicht nach Trägern differenzieren. Es gibt tolle städtische Krippen genauso wie andere. Vor Ort kommt es immer darauf an, dass engagierte und interessierte Menschen mitarbeiten. Gerade deshalb sollte man den Streik ernst nehmen: Ignorieren wir jetzt die richtigen Forderungen, werden wir langfristig nicht mehr genug gut ausgebildete und motivierte Erzieherinnen haben.

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