Eine Klasse für alle:Bayerns letzte Zwergschule

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In Unterjoch werden alle Kinder von sechs bis zehn in einem Zimmer unterrichtet. Gemeinsam lernen sie schneller als Schüler in normalen Klassen.

Sabine Buchwald

Unterjoch - Welche Schule ist die beste für mein Kind? Die Eltern der Grundschüler in Unterjoch muss diese Frage nicht quälen, weil es nur eine Schule in Unterjoch gibt - zum Glück noch immer gibt, wie seit zwei Jahrhunderten schon. Die drohende Schließung ist abgewendet. Im vergangenen Jahr sah es eine Weile so aus, als ob die Erst- bis Viertklässler künftig den Jochpass hinunter nach Bad Hindelang in die Schule hätten fahren müssen.

Edeltraud Stampfer, elf Jahre alleinige Lehrerin in Unterjoch, wollte den malerischen Ort im Oberallgäu verlassen, hinunter ins Tal und wieder eine unter vielen sein. "Eine der letzten deutschen Zwergschulen vor dem Aus", ging es durch die Presse, Fernsehteams brummten Deutschlands höchstgelegene Bundesstraße mit ihren vielen Spitzkehren hinauf und dokumentierten, was es zu erhalten galt: das weiß getünchte Haus mit dem Holzdach und dem riesigen Garten, in dem zwei Fußballtore stehen und im Sommer Johannisbeeren wachsen; das Klassenzimmer mit dem schlichten Holzkreuz an der Wand und seinem Blick auf den Hotzenberg, in dem ganz niedrige Tische und Stühle für die ersten zwei Jahrgangsstufen und ein wenig höhere Möbel für die Jahrgangsstufen drei und vier stehen. Denn in Unterjoch sitzen Sechs- bis Zehnjährige zusammen in derselben Klasse.

Nach intensivem Suchen meldete sich Gabriele Urban-Schwarz. Die 47-jährige Bambergerin fürchtete sich nicht vor dem Unkonventionellen und antwortete dem Schulrat mit "ja", als er sie während des Bewerbungsgesprächs fragte: "Halten Sie die Berge aus?". Urban-Schwarz startet nun in ihr zweites Jahr in Unterjoch. Ihr Arbeitsplatz liegt mehr als 1000 Meter über dem Meeresspiegel, ist umgeben von Bergkuppen, die Touristen zum Wandern und Skifahren anlocken und so das Auskommen der 360 Einheimischen sichern.

Urban-Schwarz brachte 25 Jahre Lehr-Erfahrung in allen vier Jahrgangsstufen mit, hatte aber noch nie alle zusammen in einem Klassenzimmer unterrichtet. Offiziell gilt die Zwergschule in Unterjoch als Außenstelle der Volksschule Hindelang. Sie ist die einzige ihrer Art im gesamten Freistaat. In entlegenen Gebieten der Schweiz oder Frankreichs gibt es solche Minischulen noch öfter. Eine von ihnen hat der Regisseur Nicolas Philibert in seinem Dokumentarfilm "Etre et Avoir" verewigt. Wie der Lehrer Monsieur Lopez im Film scheint auch Frau Urban-Schwarz mehr als zwei Ohren zu haben und dazu noch ein Paar Augen am Hinterkopf. 24 Kinder unterrichtete sie in allen Fächern außer Religion, Sport und Handarbeiten in ihrem ersten Jahr in Unterjoch: neun Erstklässler, drei aus der zweiten Klasse und je sechs in den Jahrgangsstufen drei und vier. Anfangs hätten ihr die Füße weh getan vom ständigen Umhersausen zwischen den Schülern, erzählt sie. Nie könne man abschalten. Denn lässt sie einige Kinder mal für sich an ihren Pulten arbeiten, bespricht sie währenddessen mit dem Rest andere Themen. Dabei muss sie alle im Blick behalten, denn, auch wenn sie betont, dass die Kinder hier "erstaunlich lieb" seien, Unfug wie Hausschuhe verstecken fällt auch ihnen ein.

Der Arbeitsaufwand für die Lehrerin ist enorm. Sie muss sich an vier verschiedene Lehrpläne halten und täglich den Unterricht für vier Klassenstufen vorbereiten. In ihre Tasche müssen viermal so viele Bücher passen, und jeder Jahrgang braucht verschiedene Arbeitsblätter. "Ich musste alles neu und anders vorbereiten", sagt Gabriele Urban-Schwarz. "Ich hoffe, dass im neuen Schuljahr nun mal ein freies Wochenende drin ist." Ihre Vorgängerin, Edeltraud Stampfer, bestätigt: "Im ersten Jahr kommt man an seine Grenzen." Aber schnell zählt sie dann die vielen Vorteile auf, die diese Unterrichtsweise vor allem für die Schüler mit sich bringt, und man fragt sich, warum überhaupt in getrennten Jahrgangsklassen unterrichtet wird.

Ältere helfen Jüngeren

In einer Zwergschule gibt es immer kleine Gruppen pro Altersstufe, so dass Schwächen einzelner Schüler schnell auffallen und individuell behoben werden können. Eine Förderlehrerin, die einige Stunden pro Woche nach Unterjoch kommt, unterstützt dabei. Außerdem helfen Ältere den Jüngeren. "Kinder akzeptieren Hinweise eines Mitschülers aus einer höheren Klasse sehr gut", weiß Stampfer. Schüler der dritten und vierten übernehmen Patenschaften in den beiden unteren Klassen. Das prägt das Verantwortungsgefühl und fördert den Zusammenhalt ebenso wie das gemeinsame Fußballspiel in der Pause oder das obligatorische Plätzchenbacken beim ortsansässigen Bäcker vor Weihnachten.

Die Lehrkraft begleitet die Schüler vier Jahre lang, kann einen Drittklässler Stoff aus der zweiten Klasse wiederholen lassen, wenn sie weiß, dass ihm eine Auffrischung in einem Fach gut tut. Die Kinder gewöhnen sich frühzeitig an selbstständiges Arbeiten. Sie lernen schnell, dass sie mit Fragen nicht herausplatzen können, wenn die Lehrerin gerade anderen zuhört. Sie müssen sich gedulden und schauen dann schon mal Mitschülern über die Schultern, erinnern sich an Vergangenes oder freuen sich auf das, was kommt. Erstaunt stellte Gabriele Urban-Schwarz fest, wie viel schneller sie bisweilen ihren Stoff durchbrachte als an ihrer vorherigen Grundschule. Die Erstklässler beispielsweise konnten schon an Allerheiligen lesen.

© SZ vom 11.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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