Diplom:Die Einser-Inflation

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Je nach Studienfach kann ein "sehr gut" eine Top-Leistung oder gerade mal Durchschnitt sein. Was Noten wirklich wert sind.

Georg Etscheit

Die Prüfung ist geschafft, das Ergebnis erfreulich. Eine Einskommanochwas prangt auf dem Abschlusszeugnis. Gute Gelegenheit, mit Freunden eine Flasche Schampus zu köpfen. Doch die Sektlaune weicht einer gewissen Ernüchterung, als die Mitstudierenden mit ihren Ergebnissen zu prahlen beginnen. Nur Einser und Zweier! Lauter Überflieger! Kann das mit rechten Dingen zugehen? Wo man doch weiß, dass es die Kommilitonin X und der Kommilitone Y beim Examen eher ruhig haben angehen lassen.

Bei der Bewerbung zählt ein guter Abschluss viel. Ob die Note hart erarbeitet oder aus reiner Gefälligkeit vergeben wurde, durchschauen Personalverantwortliche in der Regel nicht. (Foto: Foto: David Ausserhofer)

Der Eindruck, dass an deutschen Universitäten und Fachhochschulen Bestnoten freigiebig verteilt werden, trügt nicht. Er ist statistisch belegbar. Vor gut zwei Jahren hatte der Wissenschaftsrat eine Analyse der Prüfungsnoten für die Jahre 1996, 1998 und 2000 veröffentlicht. Demnach zeigten viele Fächer eine "wenig differenzierte Notengebung. Die beste Durchschnittsnote hatten mit sagenhaften 1,3 die Biologen aufzuweisen. Auch andere Naturwissenschaften wie Physik oder Chemie sowie Mathematik und die Geisteswissenschaften lagen sämtlich besser als zwei. Am schlechtesten schnitten die Wirtschaftswissenschaften ab oder die Fächer mit Staatsexamen, allen voran die Rechtswissenschaft mit einem Durchschnitt von 3,3.

Vor kurzem bestätigte der Bildungsökonom Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) noch einmal die "Einser-Inflation". Vor allem bei Psychologen und Biologen werde die Bestnote viel zu häufig vergeben. Mehr als jeder zweite Prüfling lege ein solches Prädikatsexamen vor. "Hier lässt sich anhand der Prüfungsnoten nicht mehr unbedingt erkennen, ob der Kandidat tatsächlich außergewöhnlich gute Leistungen erbracht hat." Dagegen stelle ein mit "sehr gut" bewertetes Examen in Jura ohne Zweifel eine Top-Leistung dar. Nur knapp vier von 100 Absolventen schafften es 2003 bis an die Spitze der Notenskala.

Fachleute sind sich einig, dass "Kuschelnoten" in vielen Fächern heute gang und gäbe sind. "Die Notenskala wird oft bei weitem nicht ausgeschöpft", sagt Friedrich Tegelbekkers, Referatsleiter Evaluation beim Wissenschaftsrat. Ein Trend zu immer besseren Examenszensuren habe sich über Jahrzehnte aufgeschaukelt, meint Reinhold Grimm, Präsident des Allgemeinen Fakultätentages. Mit dem Ergebnis, dass die Noten zwischen den Fächern kaum noch vergleichbar seien. Schuld daran sei vor allem die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker.

"Man kennt ja viele Studierende persönlich und will ihnen mit schlechten Noten nicht den Lebensweg verbauen", sagt Grimm. Für diese Erklärung spricht, dass überall dort, wo anonyme staatliche Stellen die Prüfungen abnehmen, deutlich strenger beurteilt wird. "Überall, wo die Uni selbst bewertet, sind Noten besser oder gar nicht mehr als Leistungsmesser existent", sagt Barbara Dauner-Lieb, Prorektorin der Universität Köln, kurz und bündig.

Doch die Gründe für die Schwemme von Prädikatszensuren sind vielschichtig. In manchen Köpfen wehe noch der Geist der 68er, meint Dauner-Lieb. "Da gibt es bei einigen Kollegen noch ein allgemeines Vorurteil gegen die Leistungsdifferenzierung." Den Verzicht auf (schlechte) Noten verstünden sie auch als Protest gegen die Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Ein weiteres Problem seien die an den Unis mittlerweile üblich gewordenen regelmäßigen Beurteilungen der Professoren durch die Studierenden. "Wenn ich immer gute Noten vergebe, werde ich natürlich sofort besser gerankt." So wird ein eigentlich gutes Instrument der Qualitätssicherung der Lehre in sein Gegenteil verkehrt.

Und es gibt einen weiteren gewichtigen Grund für die Einser-Inflation, über den nur hinter vorgehaltener Hand geredet wird: Nicht wenige Studierende fechten schlechte Zensuren gerichtlich an. Ergo: Wer nur Bestnoten vergibt, erspart sich eine nervende Auseinandersetzung um Stellen hinter dem Komma. Von der geplanten Einführung von Studiengebühren erwartet Barbara Dauner-Lieb eine Verschärfung des Trends zur Top-Note. "Die Professoren werden noch größere Hemmungen haben, weil sie ihre zahlenden Kunden nicht vergrätzen wollen."

Viele Studierende freuen sich natürlich über gute Examensnoten, sehen jedoch nur selten die Nachteile der EinserInflation. "Wenn das Notensystem völlig entwertet wird, schadet das allen", sagt Reinhold Grimm, der das Eintreten für realistischere Zensuren nicht als Strafmaßnahme verstanden wissen will. Denn auf dem Arbeitsmarkt würden dann andere Auslesekriterien umso stärker greifen, die womöglich weniger objektiv und kontrollierbar seien als Examensnoten, etwa Herkunft oder persönliches Auftreten. Dauner-Lieb hält Kuschelnoten sogar für unsozial. "Man nivelliert hier an einer Stelle, wo es absolut nicht sinnvoll ist."

Karl Bosshard von der Managementberatung Kienbaum kennt die Diskussion, sieht die Lage jedoch als weniger dramatisch an. Nach wie vor spielten Examensnoten bei Bewerbungen eine "sehr, sehr bedeutende Rolle". Bei vergleichbaren Werdegängen gehe die Examensnote mindestens mit 20 bis 30 Prozent in die Bewertung des Kandidaten ein. Natürlich gebe es Fächer, in denen die Professoren ihre Studenten tendenziell zu gut behandelten, sagt Bosshard. "Doch dem Personaler fehlt in der Regel die Information, ob der Kandidat ein lockeres oder hartes Studium absolviert hat."

Peter Michael Huber, Vorsitzender des Deutschen Juristen-Fakultätentages, hält die Qualitätsstandards in seinem Fach für ausreichend. "Bei uns kann im Staatsexamen eine Leistung mit großer Zuverlässigkeit festgestellt werden." Die anonyme Form der Beurteilung schließe persönliche Einflüsse weitgehend aus. Dagegen will Hanspeter Bopp, Vorsitzender des Fachschaftstages Mathematik, den Vorwurf, allzu oft Bestnoten zu vergeben, nicht auf sich sitzen lassen. "Das Studium der Mathematik polarisiert sehr stark. Viele Studierende werfen irgendwann das Handtuch. Dann bleiben natürlich nur die Besseren übrig", sagt Bopp. "Wenn bei uns jemand mit zwei abschließt, dann ist er gut, dazu stehen wir."

Barbara Dauner-Lieb lässt sich von ihrer Kritik an den Kuschelnoten nicht abbringen. Anonyme Prüfungen nach dem Muster der Staatsexamen, fordert sie, sollten auch in anderen Fächern eingeführt werden. So könne dem Trend zur universitären Einheitsnote entgegengewirkt werden. Grimm erhofft sich Besserung von der Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse. Die Reform mache das Studium "kleinteiliger und prüfbarer". Wenn wieder mehr wirkliches Wissen statt spontaner Intelligenz geprüft werde, seien realistischere Noten zu erwarten. Dann dürfte die Sektlaune nach einem guten Examen völlig ungetrübt sein.

© SZ vom 29.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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