Die neuen Gastarbeiter:Kollegen in Weiß

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In Frankreich gilt die 35-Stunden-Woche - für Ärzte jedoch nur theoretisch.

Von Christine Demmer

(SZ vom 30.8.2003) Antonia weigert sich, zu sprechen. Nicht, dass die Fünfjährige nichts zu sagen hätte. Es fehlen ihr einfach die französischen Worte, mit denen sie ihr inneres Erleben den anderen petits enfants im Kindergarten mitteilen könnte. Früher, in Hamburg, da hat sie gesprudelt wie ein Wasserfall, und wenn kleine deutsche Gäste in Frankreich zu Besuch sind, zählt sie stolz die Vokabeln auf, die sie kennt. Es sind eine ganze Menge.

"Der Auslandsaufenthalt ist ein Zuzahlgeschäft", weiß Bernd Weitzel heute. (Foto: Foto: SZ)

Seit gut einem Jahr lebt Antonia mit ihren Eltern und der kleinen Schwester in Rodez nördlich von Toulouse. Demnächst soll sie in die örtliche Ganztagsschule gehen. Aber Antonia will partout nicht Französisch sprechen, und deshalb will Vater Bernd Weitzel seinen Job als Narkosearzt am Centre Hospitalier von Rodez an den Nagel hängen. "Ich bedauere es überhaupt nicht, die anderthalb Jahre hier haben sich gelohnt", sagt der 37-Jährige, "aber wenn ich gewusst hätte, was da so auf uns zukommt..."

Zu Beginn hatte sich alles ganz vernünftig angelassen - und manches sogar traumhaft. Ein Personalvermittler aus Frankreich klopfte bei Weitzel an und bot ihm eine erheblich besser bezahlte Stelle als Facharzt für Anästhesiologie in einem Kreiskrankenhaus in landschaftlich reizvoller Lage an. Ehepaar Weitzel war entzückt. "Nach vielen Jahren in Hamburg hatte die Großstadt für uns an Reiz verloren. Verkehr, wenig Grün, teuere Mieten, schlechtes Wetter", sagt Weitzel. Dazu kam der Wunsch seiner Frau, die Babypause zu nutzen, um eine andere Sprache richtig zu lernen.

Mit Volkshochschulkursen und Privatunterricht polierten die Weitzels ihr Schulfranzösisch auf, und sie waren sicher, dass ihre aufgeweckten Töchter das schon irgendwie alleine regeln würden. Teil des Vertragspakets mit der Kommune Rodez war außerdem ein vierwöchiges Sprachtraining in Paris bei gleichzeitig gezahltem Gehalt. "Die Reisekosten zu den Vorstellungsterminen muss man zwar selbst zahlen, aber dafür wird dem Besucher vor Ort gleich gezeigt, wie wichtig man eventuell sein könnte", sagt Weitzel. "Im Laufe eines Tages wurde mir das Krankenhaus präsentiert, und zwischendurch gab es ein Fünf-Gänge-Menu." Sogar über die Umzugskosten und eine Übergangswohnung ließ die Krankenhausverwaltung mit sich reden.

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit

Offiziell wird in Frankreich seit Anfang 2000 das Gesetz über die 35-Stunden-Woche umgesetzt. Für Ärzte gilt das zwar nur auf dem Papier, als Ausgleich gibt's 20 freie Tage, zusätzlich zum tariflichen Jahresurlaub von 25 Tagen. Hinzu kommen 15 Tage Fortbildungsurlaub.

Obligatorisch in kommunalen Kliniken ist der Halbjahresvertrag mit knapper Kündigungsfrist, der sich bis zu einem Maximum von zwei Jahren automatisch verlängert. Weitzel: "In diesem Zeitraum kann man einen staatlichen concours - eine mündliche und schriftliche Prüfung - absolvieren, mit dessen Bestehen man quasi verbeamtet ist und eine staatliche Stellengarantie erwirbt."

Danach geht es automatisch alle zwei, drei Jahre mit dem Gehalt nach oben, plus Inflationsausgleich und der Möglichkeit, während der Arbeitszeit an privaten Kliniken noch etwas hinzuzuverdienen. "Zu Beginn verdient man hier mehr als in Deutschland", sagt Weitzel, "doch am Ende der Berufstätigkeit ist das Gehalt an französische Kliniken niedriger."

Der Berufsalltag der Klinikärzte unterscheidet sich in wenigen, aber wichtigen Punkten. "Während in Deutschland hierarchische Strukturen dominieren - mit Kollegen in der Ausbildung, Fachärzten, Oberärzten und Chefarzt - findet man hier ein Kollegialsystem von gleichberechtigten Spezialisten. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird tatsächlich praktiziert und steht in hohem Ansehen." Andererseits bilden kleinere französische Krankenhäuser kaum aus, das bleibt den Universitätskliniken überlassen. Die Folge: "In Frankreich kennt man keine Assistenz- und Stationsärzte. Die Vor- und Nachbetreuung der Patienten obliegt meist dem Anästhesisten. Er dient hier gewissermaßen als Mädchen für alles. Das ist in den französischen Arzthaftungsregeln auch so festgelegt."

Urlaub vor der Haustür

Wenn Bernd Weitzel Nachtdienst hat, ist er als einziger Arzt für bis zu 200 Patienten zuständig, deren Krankengeschichte er meist nicht kennt. Das bedeutet Stress und viel Verantwortung. Wenngleich die jeweils behandelnden Ärzte ihre Weisungen für die Kranken hinterlassen, empfindet Weitzel die Vor- und Anschlussbehandlung bei ihm unbekannten Patienten zunehmend als Belastung. "Das war ich von Deutschland nicht gewöhnt, ebenso wenig wie gleichzeitig zwei Patienten während der Narkose zu überwachen." Weitzel vermisst Standardabläufe für Qualitätssicherung und Kosteneffizienz. "Jeder Arzt behandelt so, wie er möchte, nur gebunden an die aktuellen medizinischen Erkenntnisse - mit möglicherweise sehr individueller Auslegung, was denn das Aktuellste sei."

Zum Jahresende möchte Weitzel nach Deutschland zurückkehren. Seine vorläufige Bilanz: "Den Urlaub hat man hier direkt vor der Haustür. Die größte Bereicherung sind die persönlichen Erlebnisse. Doch ansonsten bleibt der Auslandsaufenthalt ein Zuzahlgeschäft." Kinder haben ein feines Gespür. Man ahnt, warum sich Antonia der fremden Sprache verweigert.

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