Déformation professionnelle:Beruflich bedingte Missbildung

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Arzt, Anwalt oder Lehrer: Im heiteren Beruferaten liegen Fremde meistens richtig, wenn sie die Profession des Gegenübers erraten sollen. Arbeit formt den Charakter.

Julia Bönisch

Irgendwann trifft es jeden. Der Unterschied ist nur, wer fragt. Manchmal sind es die Eltern, die einen darauf aufmerksam machen, oft der Partner oder die eigenen Kinder. "Musst du immer so reden? Wieso bist du so?", lauten die entscheidenden Fragen. "Warum? Wie bin ich denn?" "Na, so wie ein Lehrer eben." Oder Polizist, Politiker, wahlweise auch Arzt, Anwalt oder Vertriebler.

Dr. Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik: Der typische Arzt, der auch im Privatleben mit Schwester Christa den Halbgott in Weiß gab. (Foto: Foto: dpa)

Das, was wir machen, prägt unser Denken und Handeln. Der Beruf beeinflusst Entscheidungen, Argumente in Diskussionen und unsere komplette Lebenseinstellung. Wenn der Lehrer auf der Party zum Dozieren neigt oder den längst erwachsenen Kindern immer noch Grundschul-Scherze erzählt, nennt man das déformation professionnelle. Er hat seine soziale Rolle so sehr verinnerlicht, dass er sie auch im Privatleben nicht mehr ablegen kann.

Er ist Lehrer mit Leib und Seele, das System hat ihn nach einigen Jahren Berufserfahrung beziehungsweise Gehirnwäsche so wieder ausgespuckt, dass er sich an sein Vor-Lehrer-Dasein gar nicht mehr erinnert.

Deshalb erkundigt sich der Umweltbeauftragte im Small Talk sofort nach dem Verbrauch des Autos, sieht der Polizist überall Verbrecher und löst der Mathematiker auch in seiner Freizeit mathematische Probleme.

Oft fängt die Gehirnwäsche gleich an der Uni an: Nicht umsonst kann man Juristen und Sozialpädagogen schon am Outfit und sonstigen Insignien auseinander halten. Der eine trägt ein blaues Hemd mit hochgestelltem Kragen und V-Ausschnitt-Pullover drüber, dem anderen ist das viel zu schick und formell.

Verinnerlichtes Kanzler-Sein

Lustig wird's, wenn die Symptome der déformation professionnelle dem Betroffenen selbst gar nicht mehr auffallen, nur noch den anderen. Manchmal vollzieht sich das sogar in aller Öffentlichkeit: Als etwa Gerhard Schröder nach der Bundestagswahl im September 2005 in der Elefantenrunde in der ARD saß, wussten schon alle, dass er in Zukunft nicht mehr Kanzler sein würde. Nur Schröder selbst war das nicht so ganz klar - einmal Chef, immer Chef. Das Kanzler-Sein hatte er so verinnerlicht, dass er sich schier nicht davon trennen mochte.

Oder die Radprofis: Offenbar gehört es für die meisten von ihnen zum Berufsbild dazu, sich Epo, Clenbuterol oder Amphetamine zuzuführen. Das Bewusstsein für das Illegale ist ihnen dabei leider abhandengekommen.

Manchmal jedoch können Berufskrankheiten auch etwas Positives haben: Sie schaffen Loyalität. "Wir Lehrer", "wir Ärzte", "wir Journalisten" heißt es dann, und man stöhnt gemeinschaftlich über die Arbeitsbelastung, den Stress oder vielleicht auch sich selbst. Die Macken der Berufsgruppen verbinden, man erklärt sich mit Seinesgleichen solidarisch. Gemeinsam ist es leichter, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.

Nicht von der déformation professionnelle befallen werden nur diejenigen, die ihrem Beruf vollkommen leidenschaftslos nachgehen. Oder solche, die ihren Job jährlich wechseln - Persönlichkeiten, die nach dem Studium erst mal Animateur auf Teneriffa sind, danach Praktikant in einer Werbeagentur, dann Schafhirte in Neuseeland werden und schließlich als Gitarrist in einer unterdurchschnittlichen Cover-Band enden.

Schaut man sich solche Lebensläufe an, ist die Charakter-Missbildung dank des Berufes doch die bessere Alternative.

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