Chancengleichheit:"Der Mittelstand rutscht langsam runter"

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An Gymnasien wird das soziale Gefälle immer größer: Manche bekommen zum Geburtstag ein Auto, andere müssen jeden Tag jobben, um den Führerschein machen zu können. Ein Besuch.

Mohamed Barkouk, 17 Jahre, fünf Geschwister, Sohn eines aus Marokko eingewanderten Stuckateurs, findet: "Jeder ist seines Glückes Schmied." Deshalb soll der Staat den Reichen möglichst wenig wegnehmen und den Armen nur das Nötigste geben. Dominik Nolte, 17 Jahre, Sohn einer Lehrerin, widerspricht. "Kinder aus sozial schwachen Familien haben von Anfang an einen Nachteil, weil sich die Eltern nicht so für Bildung interessieren." Da sei der Staat gefragt.

Gymnasiast Onur Kutun im Sportunterricht: "Der Mittelstand rutscht langsam runter." (Foto: Foto: dpa)

"Kommunist!", ruft Mohamed. Woraufhin Dominik nur verächtlich durch die Nase schnaubt. Es ist noch nicht mal halb neun an diesem Morgen in Deutschland, und schon wird wieder über Reichensteuer, Hartz IV und wegbrechende Mittelschicht diskutiert. Aber dies mit etwas mehr Bodenhaftung, als man es aus mancher Bundestagsdebatte oder Expertenrunde kennt. Im 12er Grundkurs Sozialwissenschaften des Kaiserin-Theophanu-Gymnasiums in Köln-Kalk wissen viele Teilnehmer aus eigener Erfahrung oder direkter Anschauung, was es bedeutet, mit Hartz IV oder Minijobs aufzuwachsen. Kalk ist eines der schlechteren Viertel der Stadt.

Klagen ist uncool

Kennzeichnend für die Theophanu-Schüler ist ein starkes soziales Gefälle: Manche bekommen zum 18. Geburtstag von Papa einen eigenen Wagen, andere müssen jeden Tag arbeiten gehen, um irgendwann den Führerschein machen zu können. "Der Mittelstand rutscht langsam runter", meint der 17-jährige Onur Kutun und rückt seine Baseballkappe zurecht.

Doch klagen tut niemand, klagen ist uncool. Gerade die Schüler aus Migrantenfamilien vertreten in der Diskussion an diesem Morgen den harten neoliberalen Standpunkt, dass jeder es schaffen kann, wenn er nur will. "Du bist selber schuld, wenn's nicht klappt", sagt Mohamed. Lehrerin Claudia Rudel wundert sich: "Wir sind doch hier in Kalk, mitten im sozialen Brennpunkt", sagt sie provozierend. "Ihr seid doch auch betroffen!" Aber viele der Jugendlichen sind spürbar stolz darauf, unter diesen Umständen eben doch die Oberstufe erreicht zu haben. "Gerade bei Kindern aus Hartz- IV-Familien ist der Leistungsgedanke oft sehr ausgeprägt", bestätigt Rudel.

Gute Diskussionen

Fast die Hälfte der 30 Schüler dieses Grundkurses kommt aus Migrantenfamilien. Das Niveau der Diskussion ist beachtlich. Die Schüler besprechen Fragen wie "Kann man eine hohe Beschäftigung zum Preis von Inflation erkaufen?" Sie vergleichen persönliche Erfahrungen mit dem, was sie im Internet oder in der Zeitung gelesen haben - viele durchforsten jeden Tag die Zeitung, alle sind mehrmals täglich im Netz - und beziehen sich auf Texte im Lehrbuch. Wenn eine Fragestellung in der Gruppe bearbeitet wird, verteilen die Jugendlichen die Aufgaben zügig untereinander: "Ich mach die Wachstumsraten, du machst die Preisentwicklung."

Auf der nächsten Seite: Wie schnell der Ruf einer Schule kippen kann - und dann die Besserverdiener ihre Kinder woanders anmelden.

Martialisches Outfit

Das disziplinierte Verhalten steht in einem merkwürdigen Kontrast zum teils martialischen Outfit. Bodybuilding- Studio und Karateschule, Basketball- und Eishockeyverein sind beliebte Treffpunkte am Nachmittag. Andere gehen zum Schach, zur Ägypten-AG oder zur Messdienerstunde - das Spektrum ist breit.

Schulleiterin Monika Lindberg achtet darauf, dass der ganztägige Schulbesuch ein Angebot bleibt und nicht zur Pflicht wird: Viele Eltern aus der Mittelschicht wollen am Nachmittag selbst über die Zeit ihrer Kinder verfügen, wollen sie zum Klavierunterricht oder zur Reitstunde schicken. Und gerade diese Kinder seien für das Sozialgefüge an der Schule sehr wichtig. So versucht die Schulleitung, verschiedene Interessen auszubalancieren. "Es ist ja nicht so, dass wir keine Konkurrenz hätten", sagt Lindberg. Ganz schnell könne der Ruf einer Schule kippen, und dann meldeten gerade die Besserverdienenden ihre Kinder woanders an.

Geld vom Förderverein

Leistungskurs Geschichte in Jahrgangsstufe 13. Karsten Kuchs spricht mit seinen Schülern über die bevorstehende Abschlussfahrt nach Rom. Manche Eltern können solche Reisen nicht bezahlen, dennoch musste bisher noch niemand zu Hause bleiben. Der Förderverein schießt notfalls Geld zu. Und für die Skifreizeiten in der Mittelstufe wird ein Basar abgehalten, auf dem es die Ausstattung gebraucht gibt.

Viele Schüler gehen nebenher arbeiten. Die 17-jährige Naradee Nierstenhöfer hat gleich mehrere Jobs: Sie macht Hausaufgabenbetreuung bei den Jüngeren, verkauft im Fußballstadion Brezel und übernimmt an zwölf Tagen im Monat einen Spätdienst im Altenheim. Wenn sie sich nichts dazuverdienen würde, könnte sie sich die abendlichen Besuche mit ihrer Clique in der Cocktailbar nicht leisten. Auch den Führerschein finanziert sie selbst. "Eigentlich wollten mir den meine Eltern bezahlen, aber dann wurde mein Opa krank, und meine Mutter musste das Geld zurückbehalten, um hinfliegen zu können." Die Mutter stammt aus Thailand.

Trotz guter Noten kein Studium

Naradee ist eine von insgesamt 200 deutschen Schülern, die dieses Jahr ein Stipendium für den "Studienkompass" bekommen haben, eine Initiative, die unter anderem von der Stiftung der Deutschen Wirtschaft und der Deutschen Bank gefördert wird. Sie will Schülern aus nicht akademischen Elternhäusern bei der Studienorientierung helfen. Vermittelt werden Praktika, Exkursionen zu Firmen und Universitäten, Gespräche mit Dozenten und Managern, Trainings und Workshops.

Denn noch immer ist es so, dass sich Schüler wie Naradee oft trotz guter Noten gegen ein Studium entscheiden, weil es ihnen zu teuer ist oder auch, weil sie gar nicht wissen, was sie beruflich eigentlich wollen. Die Zahl der Studierenden aus den sogenannten "bildungsfernen Schichten" ist in Deutschland im internationalen Vergleich sehr gering. Jugendliche aus Elternhäusern ohne akademische Erfahrung finden dreimal seltener den Weg ins Studium als Jugendliche aus Akademiker-Familien.

Auf der nächsten Seite: Wie sich auch im Sportunterricht die wachsenden sozialen Unterschiede bemerkbar machen.

Ganzkörperanzug für den Schwimmunterricht

Auch Naradee weiß noch nicht, wie es nach der Schule weitergehen soll. "Ich habe mit meinen Eltern noch nicht so drüber gesprochen. Mein Vater wird schon 61. Die wollen so bald wie möglich nach Thailand auswandern. Ich weiß nicht, ob ich von ihnen Unterstützung kriegen werde."

5. Stunde, Sportunterricht. Auch hier machen sich die wachsenden sozialen Unterschiede bemerkbar. Immer öfter bekommt Studienrat Christian Polenthon Fünftklässler, die nicht schwimmen können. "Letztes Jahr waren es acht Nichtschwimmer unter 60 Schülern. Das hat man seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt, das ist ein richtiger Einbruch." Zwei muslimische Mädchen durften nur mit Ganzkörperbadeanzug am Unterricht teilnehmen.

Der private Schwimmbadbetreiber lehnte das zunächst ab, doch nachdem sich der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) für die beiden Mädchen eingesetzt hatte, durften sie doch noch. Eine muslimische Schülerin, die als drittbeste die Abschlussprüfung in der 10. Klasse absolviert hatte, musste letztes Jahr abgehen: Die Eltern wollten nicht, dass sie weiter zur Schule ging.

Scheitern an ganz banalen Dingen

Während sich die Mensa schon füllt, strömen die Oberstufenschüler in die Aula - zur Stufensprecherwahl. Claudia Rudel nutzt die Gelegenheit für ein paar Ermahnungen: "Denkt daran: Ehrenamtliches Engagement fließt in die Kopfnoten ein und soll im Abiturzeugnis vermerkt werden." Für manche ist es wichtig, immer wieder an diese Dinge erinnert zu werden, sonst scheitern sie am Ende an ganz banalen Dingen.

Nach Ende des Unterrichts machen sich die Schüler auf den Heimweg, unter ihnen Robert Karsdorf. Der 18-Jährige - ebenfalls ein Teilnehmer des "Studienkompasses" - hat im August sein letztes Schuljahr begonnen, er macht im Frühling Abitur. "Gemischte Gefühle" hat er dabei. Auch er ist nicht sicher, was er danach machen will. Aber er wirkt nicht so, als würde ihm das Sorgen bereiten. Er hofft, dass jetzt trotz aller Probleme die beste Zeit im Leben kommt: der kurze Abschnitt, in dem noch alles offen, alles möglich ist.

© dpa/Christoph Driessen - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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