Boom von Zeitarbeit:Das deutsche Jobwunder

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Sie sind günstig und flexibel einsetzbar: Die Zahl der Zeitarbeiter hat sich in den vergangenen Jahren verdreifacht. Die Leidtragenden des Zeitarbeit-Booms sind die Stammbeschäftigten.

Dagmar Deckstein

Wolfgang Gensicke lebt in einem Dreiecks-Verhältnis. Deswegen hat er auch keine Angst um seinen Job. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet er schon beim Autozulieferer Recticel in Unterriexingen bei Ludwigsburg, er schafft neues Material herbei und hält die Maschinen instand, auf denen die Firma die Kunststoff-Instrumententafeln für die Mercedes A-Klasse und für die Luxuskarosse Mercedes SLK produziert.

Hauptsache Arbeit: "Die finden wieder etwas anderes für mich", sagt ein Zeitarbeiter, der vor Arbeitslosigkeit keine Angst mehr hat. (Foto: Foto: dpa)

Der 49-Jährige ist einer von derzeit 20 Zeitarbeitern, die das Unternehmen zusätzlich zu den 200 Festangestellten einsetzt. Recticel ist Gensickes erster Arbeitgeber. Sein zweiter, ,,echter'', der ihm den Lohn bezahlt und für ihn die Sozialversicherungsbeiträge abführt, ist Randstad, mit mehr als 30.000 Beschäftigten die größte deutsche Zeitarbeitsfirma.

"Eine richtig gute Sache"

Acht Jahre lässt sich Gensicke schon von Randstad verleihen, und er hält das für ,,eine richtig gute Sache''. Klar blickten Betriebsräte und Arbeitskollegen oft missbilligend auf die Leihkollegen, aber tauschen wollen würde er mit ihnen nicht: ,,Die soziale Sicherheit ist bei Randstad größer'', sagt Gensicke.

Für einen Gewerkschafter wie den IG-Metall-Bezirksleiter Jörg Hofmann hören sich solche Sätze ziemlich schrill an. Hofmann sitzt in seinem Büro in Stuttgart und macht mit sorgenvoller Miene diese Rechnung auf: In den ersten zehn Monaten dieses Jahres hätte zum Beispiel die baden-württembergische Metall- und Elektroindustrie ein Umsatzplus von mehr als zehn Prozent hingelegt, aber das bei gleichhohen Stammbelegschaften. ,,Das heißt'', zürnt Hofmann ,,das zusätzliche Arbeitsvolumen wird in Leiharbeit umgesetzt.''

Der Gewerkschafter sähe es natürlich lieber, wenn die Betriebe in Zeiten des Konjunkturaufschwungs selbst sozialversicherungspflichtige Beschäftigte einstellten.

Angst vor Zwei-Klassen-Arbeitsgesellschaft

Die aber setzten mit den meist geringer verdienenden Leiharbeitern lieber ihre Stammbelegschaften unter Druck, um ihnen Konzessionen beim Lohn abzuringen.

Diese Art von Jobwunder ist Hofmann höchst suspekt. Schließlich könnte das der Anfang einer neuen Zwei-Klassen-Arbeitsgesellschaft sein.

Zeitarbeit - die Kritiker sprechen lieber von Leiharbeit - boomt in Deutschland. Die Anbieter heißen zum Beispiel Manpower, Randstad oder Adecco und sind seit einigen Jahren die größten Arbeitsplatzschaffer der Republik.

1996 waren erst 149.000 Menschen in der Branche beschäftigt, bis Ende 2005 hat sich die Zahl auf 465.000 mehr als verdreifacht. Mitte dieses Jahres ist die halbe Million bereits überschritten worden, und Ende 2006 dürften sich nach Schätzungen des Bundesverbands Zeitarbeit (BZA) dann 550.000 Beschäftigte bei den 4500 deutschen Zeitarbeitsunternehmen für Einsätze in immer wieder wechselnden Unternehmen verdingen.

15 Jahre lang arbeitete Gensicke als Elektriker bei der Nationalen Volksarmee der DDR am Flugplatz Neuhardenberg, schlug sich nach der Wende mit wechselnden Jobs durchs Leben.

Von Zeitarbeit hatte er noch nie etwas gehört, als er eines Tages in Berlin über eine Randstad-Anzeige stolperte: ,,Elektriker gesucht''. Gensicke ging hin und wurde eingestellt. Über die verschiedenen Ausleihfirmen in München, Karlsruhe und Lörrach landete er schließlich in Stuttgart, wo er seine Freundin fand und ihretwillen auch im Württembergischen bleiben will.

Wie lange der ehemalige Soldat für die 11,50 Euro Stundenlohn noch bei Recticel beschäftigt bleiben wird, ist ungewiss. Da in Unterriexingen ausschließlich für DaimlerChrysler gearbeitet wird, steht und fällt die Zukunft der kleinen Fabrik mit den Absatzzahlen des Autokonzerns. Trotzdem macht sich Giesecke um seine Zukunft keine Sorgen: ,,Randstad findet wieder etwas anderes für mich.''

Gute Erfahrung mit ausgeliehenen Arbeitskräften

Immer wieder jemanden finden Randstad und andere Zeitarbeitsunternehmen auch für Andreas Schlachta, den Personalchef der Recticel Automobilsysteme GmbH, die mit 800 fest Beschäftigten an fünf deutschen Standorten vertreten ist.

Schon seit mehr als zehn Jahren setzt das Unternehmen auf Zeitarbeit: ,,Der größte Vorteil ist, Leute kurzfristig und auch für kurze Zeit zu bekommen'', sagt Schlachta.

Ob für Urlaubsvertretungen, an Feiertagen oder für krankheitsbedingte Ausfälle, bei denen kurzfristig Personalersatz zur Stelle sein muss. Ob Facharbeiter, Ungelernte, Sekretärinnen oder Finanzexperten wie Controller - Schlachta hat immer gute Erfahrungen mit den ausgeliehenen Arbeitskräften gemacht.

,,Was mir bei diesen Menschen sehr gut gefällt, ist ihr erhöhtes Engagement und ihre Motivation. Ich habe das Gefühl, dass sie sich und anderen eher beweisen wollen, dass sie ihren Job gut machen können.''

Kritik an Bundesagentur für Arbeit

Den könnten im übrigen auch die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit besser erledigen, meint Schlachta. Da habe er zum Beispiel vor einiger Zeit für seine Abteilung eine Personalsachbearbeiterin gesucht und zwei Monate vor dem Weggang der bisherigen mit der Suche begonnen.

Die Arbeitsagentur hätte ihm nach Wochen gerade mal drei Bewerberinnen genannt, von denen sich nur eine vorgestellt habe. ,,Es hieß nur, solche Kräfte würden häufiger gesucht, daher sei es schwierig. Und das bei vier Millionen Arbeitslosen'', empört sich der Personalchef.

Schließlich wandte sich Schlachta an eine Zeitarbeitsfirma, hatte binnen einer Woche acht anonymisierte Bewerbungen auf dem Schreibtisch und kurz danach endlich die neue Personalsachbearbeiterin im Büro sitzen.

Der Einsatz von Zeitarbeitskräften hilft Unternehmen, Auftragsspitzen abzufedern oder Projekte abzuwickeln, soweit die eigenen Arbeitskapazitäten nicht ausreichen.

Dennoch nutzen gerade einmal drei Prozent der 3,2 Millionen Unternehmen in Deutschland dieses Instrument, vor allem Produktionsbetriebe, so die Statistik der Bundesagentur für Arbeit.

Trotz ihres beispiellosen Aufschwungs ist die Zeitarbeitsbranche in Deutschland aber immer noch vergleichsweise unterentwickelt. Zur Zeit sind es gerade einmal 1,4 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die bei einer Zeitarbeitsfirma ihren Lebensunterhalt verdienen.

Tausende Zeitarbeiter bei Airbus

So zum Beispiel auch bei Airbus in Deutschland. Der Flugzeugbauer beschäftigt neben den 22.000 Festangestellten 7000 Leiharbeitskräfte und erregte im Oktober durch Meldungen Aufsehen, dass wegen Verzögerungen bei der Entwicklung des Großraumflugzeugs A380 1000 Leiharbeiter gehen müssten.

Den außerordentlich hohen Zeitarbeiter-Anteil - ,,von IT-Entwicklern über Produktionsarbeiter bis hin zu Sekretärinnen quer durch alle Berufe'' - begründet ein Sprecher des Flugzeugbauers mit dem extrem zyklischen Geschäft dieser Branche.

So arbeiteten zum Beispiel die Werke, die den stark nachgefragten A 320 fertigten, derzeit auf Hochtouren. Die Produktion des A 380 dagegen sei wegen dessen verlängerter Entwicklungsphase nicht ausgelastet.

Früher wurde in solchen Fällen ein Teil der Stammbelegschaft in Kurzarbeit geschickt, heute sorgt ein Mix aus Leiharbeit und Arbeitszeitkonten für die nötige Flexibilität.

Zeitarbeit immer etablierter

So langsam beginnt die Zeitarbeit in Deutschland ihr traditionelles Schmuddelimage abzustreifen. Bis 1957 war Zeitarbeit hier sogar verboten, danach galt sie jahrzehntelang bei Gewerkschaften als so verabscheuungswürdig, dass sie einen weiten Bogen um diesen Verleih von Arbeitskräften machten.

Aber die Zeiten, da Zeitarbeit gleich gesetzt wurde mit Billigarbeit zu schlechten Bedingungen, neigen sich dem Ende zu. Der Boom der Branche ist vor allem auf die Hartz-Reformen vor drei Jahren zurückzuführen.

Vor 2004 hemmten eine Reihe von Verboten die Entwicklung der Zeitarbeitsfirmen. Das Befristungsverbot etwa schrieb vor, dass Zeitarbeiter grundsätzlich unbefristet bei der Zeitarbeitsfirma eingestellt werden mussten.

Das Wiedereinstellungsverbot untersagte, dass die Zeitarbeitsfirma den Arbeitnehmer drei Monate nach der Kündigung erneut einstellt. Und das Synchronisationsverbot forderte, dass ein Arbeitnehmer bei der Zeitarbeitsfirma länger angestellt sein musste als beim Unternehmen, an das er ausgeliehen wurde.

Diese Verbote sind seit 2004 gefallen. Außerdem handelten der BZA und der Interessenverband Zeitarbeit mit dem DGB einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag aus, der einen Einstiegslohn von 7,20 Euro vorschreibt. Damit wollten die Tarifparteien dem weit verbreiteten Vorwurf, Zeitarbeit sei Lohndumping, die Spitze nehmen.

Alle Berufssparten vertreten

Ob Luftfahrtingenieure oder Diplom-Betriebswirte, ob Schweißer, Kulturwirte, Bilanzbuchhalter oder Programmierer, ob Zerspanungsmechaniker, Lagerarbeiter, Verkäuferinnen oder Küchenhilfen - wer die Stellenangebote der Arbeitskräfteverleiher studiert, findet so ziemlich alle Berufssparten.

Damit eröffnen sich auf dem Zeitarbeitsmarkt im Gegensatz zum regulären Arbeitsmarkt auch noch Chancen für gering oder gar nicht qualifizierte Kräfte.

Ein Drittel der Leiharbeiter sind Ungelernte, die Hälfte der Vermittelten war vor ihrer Anstellung bei der Zeitarbeitsfirma bis zu einem Jahr lang arbeitslos. Allerdings steigt auch im Gewerbe der Arbeitskräfteverleiher der Trend zur Höherqualifizierung.

Nach BZA-Angaben lag der Anteil der Zeitarbeitnehmer mit Berufsausbildung 2005 bei 66 Prozent, immerhin elf Prozentpunkte mehr als ein Jahr zuvor. Zunehmend übertragen Unternehmen auch hochspezialisierte Aufgaben wie Finanzbuchhaltung oder Ingenieurdienstleistungen an Zeitarbeiter.

Ingrid Hofmann, die Gründerin der Zeitarbeitsfirma Hofmann-Personalleasing mit inzwischen 9000 Beschäftigten, ist zugleich Vizepräsidentin des BZA und im Präsidium des Arbeitgeberverbands BDA.

Umsatz von zwölf Milliarden Euro

Das Potential des deutschen Zeitarbeitsmarkts, der inzwischen zwölf Milliarden Euro im Jahr umsetzt, hält sie für noch lange nicht ausgereizt: ,,Wie in England oder Holland dürfte auch bei uns eine Zeitarbeitsquote von fünf Prozent möglich sein.''

Mit dem Trend zur Projektarbeit, etwa für Ingenieure oder IT-Experten, steige die Nachfrage nach hochqualifizierten Leihkräften für befristete Einsätze.

Im Prinzip, glaubt Hofmann, gebe es keine Berufstätigkeit, die sich nicht auch von Zeitarbeitern erledigen lasse - vom Lehrer über Journalisten bis hin zu Chirurgen. ,,Mit einer Ausnahme vielleicht'', lacht Ingrid Hofmann, ,,der Job der Bundeskanzlerin ist zwar auch kein unbefristeter, aber den werden wir wohl nicht anbieten können.''

Der Zeitarbeiter Wolfgang Gensicke ist jedenfalls mit seinem Job zufrieden. ,,Seit ich bei Randstad bin'', sagt er, ,,bin ich nie wieder arbeitslos gewesen.''

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