Aufklärungsunterricht:Geburt im Klassenzimmer

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Mit einfühlsamer Sprache und einer echten Plazenta im Gepäck: Wie Hebammen in Schulen die Jugendlichen aufklären.

Lutz Debus

Im Flur der Realschule in Oer-Erkenschwick riecht es nach Tafelkreide und Spiritus. 13-jährige Mädchen stehen vor der Tür des Biologieraumes und tuscheln. "Sie soll eine echte Plazenta dabeihaben!" - "Eine was?" - "Einen Mutterkuchen." Wenig später sitzt Britta Voss mit zwölf Mädchen und vier Jungs im Kreis. Bevor sie die Plazenta zu sehen bekommen, erzählt die gelernte Hebamme von Schwangerschaft und Geburt.

Eine wichtige Aufgabe der Hebamme: Nach der Geburt muss sie die kleinen Schreihälse wiegen. (Foto: Foto: dpa)

Die Jugendlichen kichern leicht verschämt, wenn sie von himbeerförmigen Embryos hören und von Feten, die vor Langeweile Purzelbäume schlagen. Britta Voss findet eine Sprache, die die Jugendlichen von ihren Lehrern nicht kennen. "Wenn das Baby im Bauch Stress hat, macht es sich in die nichtvorhandene Windel. Dann wird das Fruchtwasser grün." Den Schülern soll vermittelt werden, sagt Britta Voss später, dass die Schwangerschaft ein ganz natürlicher Zustand ist.

Dieses Ziel bekräftigt auch die Hebamme und Gesundheitswissenschaftlerin Lea Beckmann, die das bundesweite Programm "Hebammen an Schulen" leitet. Wenn Hebammen einige Schulstunden gestalten können, sei das eine Möglichkeit, den Kindern und Jugendlichen einen unverkrampften Zugang zum Thema zu verschaffen.

Insgesamt, so die Einschätzung des Bundes Deutscher Hebammen, kommen die Schulen ihrem Bildungsauftrag bei dem Thema nicht genügend nach. Der Unterricht in Sexualkunde, sagt Lea Beckmann, falle oft aus. Heranwachsende würden vor allem durch Doku-Soaps und aus der Boulevardpresse etwas über Schwangerschaft und Geburt erfahren, dort werde oft der Kaiserschnitt propagiert. Sie trete jedoch, wenn es möglich ist, für eine natürliche Geburt ein.

Britta Voss ist mittlerweile kurz vor der Entbindung. Den charmantesten Rüpel der Klasse hat sie ein Leibchen anziehen lassen und eine Babypuppe hineingestopft. Der Junge grinst. Routiniert holt die Hebamme das Plastikkind zum Vorschein. Um dem Jungen nicht zu nahe zu treten, wählt sie einen seitlich gelegenen Geburtsweg. "Ihr könnt Euch das ja schon vorstellen."

Und dann endlich dürfen die, die sich trauen, die echte Plazenta sehen. Alle wollen. Dunkelrotes Fleisch liegt flach ausgebreitet auf einer sterilen Unterlage. "Letzte Nacht hat sich dadurch noch ein Baby ernährt", sagt Britta Voss. Die Jugendlichen wirken fast ein wenig enttäuscht, weil der Ekel ausbleibt.

Zum Schluss der Doppelstunde verteilt die Hebamme Rollen: "Ihr seid die Gebärmutter, ihr der Muttermund, ihr die Bauchmuskulatur!" Ein Mädchen darf das Baby sein, ein anderes die Plazenta, die beiden sind mit einem Gartenschlauch miteinander verbunden.

Auf einem Tisch steht die Biologielehrerin, die zuvor still dem Vortrag der Hebamme folgte. Nun spielt sie die Mutter und muss pressen. Auch die Schüler, im Kreis stehend, pressen. Die ganze Klasse bringt so das Baby zur Welt. Und das Neugeborene, in Wirklichkeit ein zwölfjähriges Mädchen, sagt: "So eine Geburt ist echt cool!"

© SZ vom 15.09.2008/lado - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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