Archiv:Schulstudie Pisa - "Das muss zu Konsequenzen führen"

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Mit Bestürzung haben die Kultusminister der Länder auf das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der internationalen Schulstudie "Pisa" reagiert. Sowohl beim Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften liegen deutsche Schüler unter dem Durchschnitt der Industrienationen, berichteten die an Pisa beteiligten Forscher des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung bei der Vorstellung der Studie.

Jeanne Rubner

(SZ vom 5.12.2001) - Außerdem wirkt sich in Deutschland, mehr als in den anderen untersuchten Ländern, die soziale Herkunft auf die schulischen Leistungen aus.

Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn forderte die Länder zu umgehenden Konsequenzen aus dem katastrophalen Abschneiden der deutschen Schüler im internationalen Vergleich auf. "Die Ergebnisse sind nicht akzeptabel", sagte der Vizepräsident der Kultusministerkonferenz (KMK) und Schulsenator Bremens, Willi Lemke (SPD).

Kompetenzstufen von niedrig bis hoch

Pisa ist im Auftrag der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD entstanden. Insgesamt 265.000 Schüler aus 32 Ländern im Alter von 15 Jahren nahmen daran teil. In Deutschland füllten 6000 Jugendliche von 219 Schulen die Fragebögen aus, die Leistungen von weiteren 50.000 sollen für eine nationale Studie herangezogen werden, mit der sich die einzelnen Bundesländer werden vergleichen lassen.

Pisa fragte weniger Fachwissen ab; vielmehr wurde untersucht, wie gut junge Menschen für das Leben vorbereitet sind. Die Tests, die sich auf etwa drei Stunden erstreckten, sollen auch Einstellung und Fähigkeiten zum Lernen ermitteln. Die Aufgaben der drei Bereiche - Lesekompetenz, mathematische sowie naturwissenschaftliche Grundbildung - waren von multinationalen Teams entworfen worden.

Die Schüler mussten weniger Multiple Choice Aufgaben beantworten als Texte lesen und analysieren sowie Textaufgaben lösen. Zum Beispiel sollten sie zwei Stücke mit unterschiedlichen Meinungen zum Thema Graffiti lesen und Fragen beantworten, die Texte interpretieren und schließlich zu einer eigenen Bewertung kommen. Typische Rechenaufgaben waren Prozentaufgaben. Bei den Naturwissenschaften ging es zum Beispiel darum, an Hand eines Tagebucheintrags des Arztes Ignaz Semmelweiss Fragen aus der Biologie zu beantworten. Für die Auswertung teilten die Forscher die Schüler in fünf Kompetenzstufen von V (hoch) bis I (niedrig) ein.

Unwillige Leser

Beim Lesevermögen gehört Deutschland mit 484 Punkten zu den 14 Ländern, die deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 500 Punkten liegen.

An der Spitze sind Finnland, Kanada, Neuseeland und Australien.

Besonders schlecht schneiden die deutschen Schüler ab, wenn sie über einen Text nachdenken und ihn bewerten sollen. Hier erreichen sie 24 Punkte weniger als der Durchschnitt.

Alarmiert sind die Forscher auch, weil die Leistung der Besten und Schlechtesten besonders weit auseinander klafft. Das liegt vor allem daran, dass Deutschland einen sehr hohen Anteil von zehn Prozent (Durchschnitt: sechs Prozent) von Schülern hat, die beim Lesen nicht einmal die unterste Kompetenzstufe I erreichen.

Immerhin 23 Prozent können auf einfachem Niveau lesen. Bedenklich stimmt die Bildungsforscher, dass 42 Prozent der Befragten angeben, sie würden nicht zum Vergnügen lesen - das ist Weltspitze.

Schlechte Rechner

Wenig besser als beim Lesen schneiden deutsche Schüler beim Rechnen ab. Mit 490 Punkten liegen sie um zehn Punkte unter dem OECD-Durchschnitt. Während Japaner und Koreaner besonders gute Ergebnisse erzielten, liegt Deutschland mit den USA, Spanien und den osteuropäischen Ländern im unteren Mittelfeld.

Nur 24 Prozent erreichen die Kompetenzstufe III, können also eine einfache Prozentaufgabe lösen. 24 Prozent erreichen Stufe I, sie können gerade mal einfachste Grundschul-Aufgaben - etwa die Fläche eines Rechtecks - rechnen, sind aber nicht in der Lage, typische Aufgaben der Handwerkskammer bei der Bewerbung für eine Lehrstelle zu lösen.

Ähnlich schlecht sieht es bei den Naturwissenschaften aus, wo Deutschland 13 Punkte unter OECD-Durchschnitt liegt und damit einen Rang zwischen 20 und 25 erreicht. Spitzenreiter sind wiederum Korea und Japan. Die an Pisa beteiligten Bildungsforscher führen das schlechte Abschneiden auf eine geringe Wertschätzung und gestückelte Stundenzahl der naturwissenschaftlichen Fächer zurück. Sie schlagen deshalb vor, ein Hauptfach Naturwissenschaft einzuführen.

Mehr als in anderen Ländern besteht in Deutschland ein straffer Zusammenhang zwischen sozialer Stellung der Familie und schulischen Leistungen. Vor allem wenn man die Lesekompetenz der Jugendlichen aus dem oberen und dem unteren Viertel der Sozialstruktur vergleicht, sind die Unterschiede nirgendwo größer als in Deutschland - "der überraschendste Befund" von Pisa, sagt Max- Planck-Direktor Jürgen Baumert. Die soziale Lage allein sei nicht ausschlaggebend für die Leistung, sondern vor allem die Beherrschung der Sprache.

Breite Qualitätsstandards gefordert

KMK-Vizepräsident Lemke warnte in Berlin davor, jetzt nur nach den Schuldigen zu suchen. Es gebe eine Reihe von Handlungsfeldern sagte auch die KMK-Präsidentin und baden-württembergische Ministerin Annette Schavan: Vor allem müssten lernschwache Kinder besser gefördert werden, neue Konzepte für das Lernen an Haupt- und Sonderschulen seien angesagt.

Man dürfe auch nicht immer mehr Schulfächer und Spezialwissen verlangen, sondern solle das Augenmerk auf breite Qualitätsstandards richten. Lehrer müssten trainiert werden, schwache Leser zu erkennen und gezielt zu fördern. Schavan kritisierte die im internationalen Vergleich späte Einschulung. "Wir unterfordern Kinder eher als dass wir sie überfordern".

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte, eine faktische Analphabetenrate von 22 Prozent sei für eine führende Industrienation ein Skandal. Er forderte eine Reform der Lehrerausbildung und regelmäßige Weiterbildung der Pädagogen.

(sueddeutsche.de)

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