Arbeitszeit:Von der Wirklichkeit eingeholt

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Über die 35-Stunden-Woche redet niemand mehr, die Deutschen arbeiten schon heute länger als Franzosen oder Niederländer.

Von Simone Boehringer

Die Gewerkschaftsschilder mit der lachenden Sonne und der Forderung nach der 35-Stunden-Woche kennt fast jeder Arbeitnehmer im Land. Dem hält die Wirtschaft gerade in diesen Tagen wieder die Forderung nach der Rückkehr zur 40-Stunden-Woche entgegen. Doch die Wirklichkeit hat die hitzig geführte Debatte längst eingeholt: Schon jetzt widmen sich die Deutschen 39,9 Stunden pro Woche ihrem Job, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg errechnet hat.

Damit liegen die Deutschen im europäischen Vergleich im Mittelfeld, noch vor einem wachstumsstarken Land wie Irland (39,5 Stunden) oder den Nachbarstaaten Frankreich (37,7) und Niederlande (38,9). Am meisten gearbeitet wird demnach in Großbritannien (43,3 Stunden), gefolgt von Polen (41,6), Griechenland (41,0) und Ungarn (40,9).

Selbst gemessen an der tariflichen Arbeitszeit, die Basis ist für vier von fünf Arbeitsverträgen heimischer Beschäftigter, ist die deutsche Industrie mit 37,7 Stunden bei weitem nicht das Schlusslicht.

Mehr als ausgemacht

Damit wird auch klar: Die tatsächliche Wochenarbeitszeit liegt im Schnitt um 2,2 Stunden höher als das, was tariflich abgemacht ist. Ob die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Laufe der Jahre größer geworden ist, lässt sich nicht nachweisen. Das IAB hat aber hochgerechnet, dass die Deutschen in diesem Jahr effektiv 214 Tage ins Büro gehen werden, sechs Tage mehr als 1996. Dies deutet darauf hin, dass Entwicklungen wie bei Siemens einen längst vorhandenen Trend nachzeichnen.

"Die Zahlen spiegeln eine schon länger veränderte Diskussionslage wider", sagt denn auch Eugen Spitznagel, beim IAB zuständig für die Themen Konjunktur, Arbeitszeit und Arbeitsmarkt. So habe es zuletzt Mitte der neunziger Jahre Arbeitszeitverkürzungen in größerem Umfang gegeben, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. "Seitdem überwiegt die Forderung nach längeren Arbeitszeiten, um die Beschäftigung zu sichern und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu erhöhen", so Spitznagel.

"Ein eleganter Weg, die Lohnkosten zu senken"

Die meisten von der SZ befragten Wirtschaftsforscher bezeichnen die Entwicklung zu einer tarifvertraglichen Arbeitszeit von 40 Stunden als "Schritt in die richtige Richtung". Nach Ansicht von Martin Werding, Bereichsleiter des Münchner ifo Instituts, sind längere Arbeitszeiten ein "eleganter Weg, die Lohnkosten in Deutschland zu senken".

So wie Siemens müssten sich auch andere Betriebe "im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit den Realitäten stellen", sagt Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik beim Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Das grundsätzliche Problem einer "zunehmend gespaltenen Gesellschaft aus denen, die wie verrückt arbeiten und denen, die keinen Job finden", sei damit jedoch nicht im Griff zu bekommen, warnt Werding.

Gabi Schilling, Arbeitsmarktexpertin beim Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen, glaubt sogar, dass mittelfristig die Nachteile längerer Arbeitszeiten überwiegen werden: "Die Produktivität der einzelnen sinkt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird wieder schlechter und die kürzeren Regenerationszeiten erhöhen den Stress und nachfolgende Krankheitsrisiken." Die eventuell durch höhere Fehlzeiten entstehenden Folgekosten sieht Schneider vom IZA allerdings recht nüchtern: "Solange die Einsparungen bei den Lohnkosten wesentlich höher liegen als die eventuell steigenden Krankheitskosten, überwiegen die Vorteile längerer Arbeitszeiten."

© SZ vom 30.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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