Arbeitslose:Denn sie wissen nicht, was sie können

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Profil schärfen, Selbstbewusstsein stärken - wie ehrenamtliche Trainer selbst Arbeitslosen jenseits der 50 wieder zu Lohn und Brot verhelfen.

Cathrin Kahlweit

(SZ vom 7.3.2002) München, 6. März - Zuerst wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Wieso alt? 56 ist nicht alt, aber die junge Frau auf der anderen Seite des Bürotisches musterte sie schweigend und ein wenig ratlos, und plötzlich fühlte sie sich unendlich alt. Wie hundert. Oder zweihundert.

Wartemarke im Arbeitsamt (Foto: N/A)

"Ich kann wenig für Sie tun, Sie sind leider zu alt", hatte dieses Mädchen vom Arbeitsamt freundlich zu ihr gesagt.

Seit ihrer Jugend hatte sie nie etwas anderes getan als gearbeitet. Keine Familie, wenig Freunde. Arbeit war der Mittelpunkt, die Basis für ihr Selbstbewusstsein, war ihr Anker. Und plötzlich überkam sie eine große Wut. "Soll ich mich etwa umbringen?" schrie sie. Ihr Gegenüber blieb gelassen: "Wir hatten schon einige solcher Fälle im vergangenen Jahr."

Der andere Weg

In diesem Moment hätte Simone Borgstedt, die wie die anderen Arbeitssuchenden in diesem Artikel einen erfundenen Namen trägt, weil sie gern unerkannt bleiben möchte, nach Hause gehen können. Sie hätte womöglich einen Cognac getrunken und sich dann aufgegeben. 32 Monate lang hätte sie noch ihr Arbeitslosengeld, danach die Arbeitslosenhilfe bezogen, danach ein paar Jahre von der Sozialhilfe gelebt, schließlich eine karge Rente in Empfang genommen.

Simone Borgstedt nahm den anderen Weg. Sie beschloss, sich nicht umzubringen. Sondern an sich selbst zu arbeiten. Und zwei Dinge zu lernen: Das Selbstwertgefühl darf nicht von der Arbeit abhängen, und schon gar nicht davon, ob man Arbeit hat. Und: 56 ist nicht alt!

Auch wenn Unternehmen in ihren Stellenanzeigen nach "young professionals" fahnden, nach Mitarbeitern für ein "junges Team". Auch wenn die durchaus bemühten Vermittler beim Arbeitsamt den Anwärter über 45 sofort in die Schublade "schwer vermittelbar" stecken, was ungefähr so klingt wie "schwer erziehbar" oder "schwer erträglich." Auch wenn die hundertste schriftliche Bewerbung unbeantwortet bleibt. Selbst wenn das einzige Vorstellungsgespräch mit dem Bescheid endet, man habe sich für einen jüngeren Bewerber entschieden. Die Hälfte aller Unternehmen in Deutschland beschäftigt schon heute keinen Arbeitnehmer mehr, der älter ist als 50.

Christoph Columbus rät

Simone Borgstedt findet diesen Jugendwahn infam und hat ungewöhnliche Hilfe angenommen: Sie lässt sich coachen.

"NeNA" heißt ihr Anker jetzt, was eine Abkürzung ist für "Netzwerk Neue Arbeit" und ein ungewöhnliches Projekt der Münchner Caritas. Professionelle Coaches, Personal- und Unternehmensberater, freiberufliche Trainer, aber auch Manager großer Firmen betreuen ehrenamtlich Rat suchende, orientierungslose, manchmal verzweifelte Arbeitssuchende.

NeNA ist keine Arbeitsvermittlung und Wunder werden hier nicht vollbracht. Das Projekt leistet vielmehr das, was bei der Reform der Arbeitsvermittlung auf den Zukunftsprogramm steht: Arbeitslose formulieren, mit Unterstützung von Profis, ein scharfkantiges Profil ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse, um sich dann zielgerichtet - und selbstbewusst - bewerben zu können.

Manchmal helfen auch schon ein paar Veränderungen in der Bewerbungsmappe. Simone Borgstedt ist daher eine typische Klientin von NeNA: Sie gibt nicht auf.

Früher zitterte sie manchmal schon, wenn sie eine Briefmarke aufkleben sollte. "Ich habe mir einfachsten Dinge nicht mehr zugetraut." Dabei hatte sie 20 Jahre lang erfolgreich als Bankkauffrau, dann als Versicherungskauffrau gearbeitet, hatte nicht schlecht verdient, hatte schließlich selbständig für eine Versicherung gearbeitet.

Aber das Geschäft ging nicht gut, das Fixum war zu niedrig. Also suchte sie sich einen neuen Job, eine Festanstellung war ihr Traum. Ein Sekretariat organisieren vielleicht, oder noch mal in einer Bank arbeiten? Zu alt, überall zu alt.

Ein Zeitarbeitsunternehmen fand schließlich etwas für sie in einer Telefonfirma, von der sie zum Schluss sogar übernommen wurde. Vor vier Wochen wurde ihr nun ein Aufhebungsvertrag angeboten, den sie unterschrieb. "Ich bin 56, ich wurde gemobbt, ich habe das nicht mehr ertragen. Die haben mit mir geredet, als wäre ich schon tot."

Inzwischen spricht sie sogar mit Toten: mit Christoph Columbus zum Beispiel, oder mit Leonardo da Vinci. Deren Namen stehen auf Zetteln, die sie um sich herum auf den Fußboden legt, wenn Simone Borgstedt sich mit ihrem Coach trifft. "Columbus, welchen Rat gibst du ihr?" fragt Christine Wachter dann zum Beispiel, die für eine Unternehmensberatung arbeitete und sich jetzt als Trainerin selbständig gemacht hat. Und die kleine, rundliche Frau Borgstedt ist sich sicher, dass Columbus antworten würde: "Keine Angst haben! Neues entdecken!" Da Vinci wiederum rät ihr, noch mal ganz etwas anderes auszuprobieren.

Das kann man albern finden, aber für Simone Borgstedt ist das Training immens wichtig. "Ich bin mir inzwischen sicher, dass ich etwas Neues finde."

1000 Initiativbewerbungen

Auch ihr Coach ist davon überzeugt. "Ihre Bewerbungsmappe ist super. Sie kann sehr viel. Nun muss sie lernen, ihre Chance zu suchen." Christine Wachter arbeitet in ihrer Freizeit für die Caritas, wie alle 24 anderen Betreuer bei NeNA auch.

Als "Ethikprojekt" bezeichnet sie ihr Engagement, und eben das ist das Prinzip der Münchner Einrichtung: Jene, die sonst auf der anderen Seite stehen, auf jener Seite, die "freistellt" und Belegschaften strategisch verjüngt, helfen hier denen, die sich als Leidtragende, als Opfer empfinden.

Also erkundet Simone Borgstedt mit Hilfe ihres Coaches: Was kann ich wirklich? Wie verkaufe ich mich gut? Dorothee Golombowski, Erfinderin und Leiterin von NeNA, kennt das Grundproblem: "Viele Arbeitslose schätzen sich falsch ein. Das Selbstbild und das Fremdbild stimmen nicht überein. Viele ältere, gut qualifizierte Männer, die zu uns kommen, haben unrealistische Ansprüche an einen neuen Job. Frauen sind viel flexibler."

Eben deshalb sind sich alle so sicher, dass Simone Borgstedt unterkommt: Sie will es wissen. Hat sich auch an zwei private Vermittlungsagenturen gewandt. Hat rund 1000 Initiativbewerbungen rausgeschickt. Bewirbt sich jetzt auch als Haushälterin. Ist bereit, auf einen Teil ihres gewohnten Gehalts zu verzichten: "Ich habe schon so viel erlebt, das bisschen mehr Risiko kann ich auch noch aushalten."

"Sie sind gut!"

Das Projekt der katholischen Kirche ist klein, aber erfolgreich. 60 Ratsuchende werden zum Teil monatelang von ihren Trainern betreut, die sie aufbauen und anfeuern, mit ihnen Arbeitsmappen zusammenstellen und Bewerbungsgespräche trainieren. Knapp die Hälfte hat wieder einen Job gefunden.

Wahrscheinlich hätte es Rufus Huber, 53, auch ohne NeNA geschafft. Er ist der Typ, der nicht so schnell aufgibt. Hat das Abitur nachgeholt, parallel zum Job als Vertriebsleiter in einer Autofirma Betriebswirtschaftslehre studiert. Mager ist er, gefasst, selbstsicher. Andererseits: Keiner bleibt auf Dauer selbstsicher, wenn die Firma, bei der er jahrelang gearbeitet hat, vor allem die Älteren entlässt. Der Vermittler beim Arbeitsamt sagte, was Huber schon wusste: "Die Firmen suchen händeringend. Aber ab 45 wird niemand mehr genommen."

Die vier Stellenangebote, die ihm der Sachbearbeiter in die Hand drückte, waren eher ein Scherz. Eine Firma stand nicht mal im Telefonbuch, die angegebene Nummer war falsch. Bei einer Firma hatte sich Huber schon zuvor erfolglos beworben. Der dritte potentielle Arbeitgeber hatte nicht darüber informiert, was er genau suchte, das Arbeitsamt wusste nichts außer der Adresse. Und der vierte antwortete nicht einmal.

40 Bewerbungen schickte Huber los. Und immer stand darin: "Ich glaube, dass meine Fähigkeiten Ihren Anforderungen entsprechen." Dann hatte er die Nase voll. Zehn Firmen hatten überhaupt nicht auf seine Briefe reagiert, kaum eine schickte die Unterlagen zurück. Also ging er zu NeNA, und seine ehrenamtliche Betreuerin Beate Ernst, Leiterin eines Personaldienstleisters, sagte: "Sie sind gut! Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel." Die nächsten Bewerbungen verschickte er mit einem leicht abgewandelten Text: "Ihre Anforderungen entsprechen meinen Erfahrungen." Am 1. März hat er seine neue Stelle als Vertriebsleiter angetreten, der neue Chef ist 70, und fortgeschrittenes Alter ist für beide kein Thema.

Ressourcen ausgraben

Natürlich ergattert keiner nur deshalb eine neue Stelle, weil er sich gut findet. Zumal, wenn er zur Gruppe der "älteren Arbeitnehmer" gehört, zu der mancher Personalchef schon die geburtenstarken Jahrgänge der späten 50er Jahre zählt. Aber es kann viel helfen, das Gefühlschaos zu ordnen, das hereinbricht, wenn plötzlich alles zu Ende sein soll.

Und mal ganz anders zu denken, als das Arbeitsamt und der Ehepartner und die Gewohnheit vorgeben: sich selbständig machen etwa wie die 53-jährige NeNA-Klientin, die jahrelang als Sprechstundenhilfe auf Stundenbasis ihre Kinder durchbrachte. Eines Tages beschloss sie: "Ich bin eigentlich erst jetzt auf dem Höhepunkt meines Lebens. Ich bin nicht erstarrt und ich bin nicht alt. Ich suche mir meine eigene Nische." Sie machte eine Ausbildung als Krankengymnastin und lässt sich jetzt nieder.

Oder wie die 56-jährige Sekretärin, die 30 Jahre lang Briefe tippte und Briefe tippte und Briefe tippte, bis man sie vor die Tür setzte. Jetzt belegt sie Kurse für musikalische Früherziehung und wird in ihrem Münchner Stadtteil mit Kindern Musik machen. Für Dorothee Golombowski von NeNA ist das vielleicht die wichtigste Erfahrung ihrer Arbeit: "Natürlich ist es leichter, den jüngeren Klienten zu helfen. Die älteren müssen stärker an sich arbeiten, ihre Ressourcen ausgraben."

Die jungen Alten

Wissenschaftler warnen deutsche Arbeitgeber schon lange davor, ihre älteren Arbeitnehmer massenhaft nach Hause zu schicken. Wenn in einigen Jahren die jungen Leute rar werden, müssten die Firmen eigentlich für jeden grauhaarigen Arbeitnehmer dankbar sein.

Die Bundesregierung legt gut gemeinte Programme auf, mit denen ältere Langzeitarbeitslose gefördert werden sollen und mahnt die Personalchefs, das "eigene Humankapital zu pflegen". Das Motto der Aktion der Bundesanstalt für Arbeit klingt besonders flott: "50 plus? Die können es. Kompetent, leistungsstark und präsent." Nur: Die Realität wird noch so lange anders aussehen, bis der Markt die Firmen dazu zwingt, Kompetenz und Erfahrung der Älteren zu nutzen.

Die älteren Frauen heute zum Beispiel sind weit attraktiver und gesünder als die Generation ihrer Mütter. Was heißt da alt?

Mareike Nagler hat Modedesign studiert und dann drei Kinder bekommen. Heute ist sie 50, schlank, kaum Falten, schöne Hände, grünglänzender Satin-Anorak. Auf dem Arbeitsmarkt wird sie schwer Vermittelbaren zugerechnet. Als sie nach der Scheidung von ihrem Mann mit der freiberuflichen Arbeit für Modefirmen wie Mondi und Escada nicht mehr genug Geld verdiente, machte sie eine Umschulung beim Arbeitsamt. Webdesign klang gut, aber eine Frau im fortgeschrittenen Alter bekommt nicht leicht eine Stelle in der IT-Branche, die sich gern besonders jung gibt.

Lange kam selbst sie, die mit ihrem Auftritt jedes Klischee besiegt, nicht gegen das Stigma an, das die Altersangabe in ihrer Bewerbung bedeutete. Dann kam NeNA hinzu, denn Mareike Nagler wusste: "Man braucht jemanden, der sagt, Du schaffst das". Eckard Schwarze, Pastorensohn und Manager bei Siemens, peppte ihre Mappe auf, gab Tipps, erinnerte an ihre verschütteten Talente. Hatte sie nicht mal als junge Frau eine Ausbildung zur Krankenpflegerin gemacht? Mareike Nagler bewarb sich bei einer pharmazeutischen Firma, bei der sie alles gebrauchen konnte, was sie hatte: Computerkenntnisse, Medizinkenntnisse, Lebenserfahrung.

Dann stand sie zum x-ten Mal vor der Tür des Vermittlers im Arbeitsamt und überlegte, welch überflüssige Beratung sie diesmal über sich würde ergehen lassen müssen. Sie erinnerte sich an das erste Gespräch mit der Sekretärin in der Firma, bei der sie so gerne eine Stelle hätte: "Ich bin nicht mehr ganz jung", hatte sie warnend gesagt, eingeladen wurde sie trotzdem.

Als sie gerade im Begriff war, die Türklinke im Arbeitsamt herunterzudrücken, klingelte das Handy. "Sie haben den Job", rief die Sekretärin ihres neuen Arbeitgebers ins Telefon. Und Mareike Naglers Wartemarke vom Arbeitsamt landete im Papierkorb.

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