Alltag auf dem Arbeitsamt:Die zwei Seiten des Mangels

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Zu viele Arbeitslose, zu wenig Arbeitssuchende - die Direktoren der Arbeitsämter stehen vor grundverschiedenen Herausforderungen

Nina Bovensiepen

(SZ vom 1.6.2001) - Manchen muss das Andenken, das vor dem Bremerhavener Arbeitsamt in die Luft ragt, wie purer Zynismus vorkommen. Als wäre es nicht schon genug, dass auf dem Gelände, wo früher die Arbeiter der Rickmers Werft Schiffe bauten, heute Arbeitsvermittler ihren Dienst tun, hat man vor dem modernen vierstöckigen Bau auch noch den alten Rickmers-Kran als Denkmal hergerichtet. Eine Erinnerung an alte Zeiten. An die guten sechziger und siebziger Jahre, als die Stadt den bedeutendsten Fischereihafen des Kontinents beheimatete, die größten Segelschiffe der Welt hier gebaut wurden - und Arbeitslosigkeit noch kein Thema war.

1980 lag die Arbeitslosenquote in Bremerhaven mit fünf Prozent nur knapp über dem bundesweiten Durchschnitt. Heute gehört die Stadt mit einer Quote von 12,7 Prozent im April zu den Gebieten mit der höchsten Arbeitslosigkeit in den alten Bundesländern. 13525 Menschen sind ohne Beschäftigung. Die erschreckend hohe Quote der Langzeitarbeitslosen - seit Anfang der achtziger Jahre kletterte sie von elf auf mehr als 40 Prozent - zeigt, dass darunter immer noch viele der ehemaligen Hafen- und Werftarbeiter sind, die nach schlimmen Krisen in der Region keine Beschäftigung mehr fanden.

Bremerhavens "Fieberkurve"

Bernd Gerke kann sich noch gut an die Zeit erinnern, als in Bremerhaven gerade einmal 4000 Menschen arbeitslos waren, nach volkswirtschaftlicher Definition also nahezu Vollbeschäftigung herrschte. 1980 kam er in die Stadt, um die Leitung des Arbeitsamtes zu übernehmen - und genau in diesem Jahr begann die Krise. Innerhalb von zwölf Monaten machte die Quote der Menschen ohne Beschäftigung im Arbeitsamtsbezirk einen Sprung von fünf auf zunächst 6,9 Prozent, von 1981 bis 1982 schnellte sie auf 10,6 Prozent hoch und im Folgejahr dann auf 14 Prozent.

Gerke hält eine Grafik in der Hand, die die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Bremerhaven seit Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt. Die "Fieberkurve" nennt er sie, und wenn er erzählt, fährt sein Zeigefinger immer wieder über das Blatt und bleibt stets an diesem enormen Sprung hängen. Manchmal kommt bei dem 58-Jährigen Verbitterung durch. Dann sagt er Sachen wie: "Wenn das eine Umsatzkurve wäre, wäre ich ein toller Unternehmer."

Erstes Anzeichen für den Beginn der schwierigen Zeit in Bremerhaven war eine Krise im Fischfang. Um Kabeljau ging es, den die ausländische Konkurrenz den Deutschen zunehmend wegfischte. Neben Fischfang und - verarbeitung gab es in der Stadt an Industrie noch den Hafenumschlag und die Werften. Die drei Wirtschaftszweige waren aber zu sehr miteinander verflochten, als dass einer von den Problemen der anderen hätte verschont bleiben können. "Kriegt ein Standbein Husten, dann niesen alle mit", sagt Gerke. Deshalb hätten die Strukturkrisen Bremerhaven so stark getroffen. Einmal in den Achtzigern und gut zehn Jahre später noch einmal, als mit der Bremer Vulkan- Werft der Hauptarbeitgeber der gesamten Region unterging, und zudem die Amerikaner die Stadt verließen, in der sie über Jahrzehnte ihren Deutschlandhafen gehabt hatten.

Arbeitslos in der Monokultur

Bremerhaven hat es bis heute nicht wirklich geschafft, sich aus der Abhängigkeit von einer dominierenden Branche zu lösen. Es ist das gleiche Problem, mit dem zum Beispiel alte Kohle- oder Stahlstandorte kämpfen. Städte, denen es nicht gelungen ist, die Folgen des Zusammenbruchs einer prägenden Industrie durch die rechtzeitige Ansiedelung von neuen Branchen aufzufangen oder zumindest abzumildern. Ein Blick in die Arbeitslosenstatistik zeigt, dass es in Westdeutschland vor allem diese Regionen mit industriellen Monokulturen sind, die unter einer hohen Arbeitslosigkeit leiden. Brennpunkte in Nordrhein-Westfalen wie Dortmund oder Duisburg etwa. Umgekehrt haben es Gebiete leichter, in denen es einen gesunden Branchenmix gibt. Hier kann eine Industrie es zumindest zeitweise auffangen, wenn eine andere mal Not leidet. Orte mit einer solchen Struktur findet man zum Beispiel im Süden der Republik.

Paradebeispiel ist das bayerische Freising. Der Arbeitsamtsbezirk, zu dem die Landkreise Freising und Erding mit zusammen 265000 Einwohnern gehören, wies im April mit 2,5 Prozent Arbeitslosen von allen 181 deutschen Ämtern die niedrigste Quote aus. Die Zahl der Arbeitslosen und der offenen Stellen hielt sich mit 3460:2973 fast die Waage, die Langzeitarbeitlosenquote lag mit 14 Prozent deutlich unter dem bundesweiten Schnitt von rund einem Drittel.

Knappheit, mal anders

Anders als Bremerhaven ist Freising nicht von einem Großbetrieb oder einer Branche abhängig - im Gegenteil: Die zehn größten Arbeitgeber kommen alle aus verschiedenen Branchen. Darunter sind mit Müller- Brot und der Molkerei Weihenstephan Lebensmittelhersteller vertreten, mit Süd- Chemie und Avon Cosmetics die Chemische Industrie, die Elektrotechnik ist mit Texas Instruments präsentiert, es gibt eine starke Dienstleistungsbranche und viele kleine Speditionen oder Bauunternehmen. Der mit Abstand größte Arbeitgeber vor Ort ist der im Arbeitsamtsbezirk liegende Flughafen. Insgesamt bietet er 18000 Menschen Beschäftigung. Ein weiterer Standortvorteil Freisings ist die Nähe zu München. 36000 der 95000 Beschäftigten des Arbeitsamtsbezirks sind Pendler und verdienen in der prosperierenden Metropole des Freistaats ihr Geld. Was hat bei diesen idealen Bedingungen noch ein Arbeitsamt zu tun?

Gerhard Güßgen hat diese Frage in den anderthalb Jahren, seit er das Freisinger Amt leitet, schon oft gehört. Besonders in den vergangenen Wochen, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder die so genannte Drückeberger-Debatte angestoßen hatte, waren viele Journalisten aus ganz Deutschland bei dem 53- jährigen Arbeitsamtsdirektor und wollten wissen, was er und seine Mitarbeiter eigentlich so machen.

"Es ist nicht so, dass wir nichts zu tun haben", ist wohl deshalb fast der erste Satz, mit dem Güßgen Besucher inzwischen empfängt. Man muss ihn eine Weile erzählen lassen, um zu verstehen, was er meint. Und man hat dann noch mehr verstanden, vor allem, wie unterschiedlich der Job von Arbeitsvermittlern in Deutschland sein kann.

Wie sein Kollege Gerke aus dem Norden ist auch Güßgen Verwalter eines Mangels. Während in Bremerhaven allerdings vor allem Stellen für die Arbeitslosen fehlen, mangelt es Güßgen an Beschäftigungssuchenden, die die Nachfrage der ständig expandierenden Freisinger Unternehmen nach Mitarbeitern stillen könnten. Der Flughafen wächst weiter, Technologieunternehmen siedeln sich nahezu ungebremst von Börsenflaute und Konjunkturschwäche im Münchner Raum an und regelmäßig klopfen die Firmen beim Arbeitsamt an, um ihren steigenden Bedarf an Arbeitskräften zu melden. Weil Güßgen sich diesen Kunden genauso verpflichtet fühlt wie den Arbeitslosen, hat er im vergangenen Jahr das Projekt "Sozial begleitete Mobilität" ins Leben gerufen. Hinter diesem Begriff verbirgt sich der Gedanke, das Angebot von Arbeitskraft aus einer Region mit einer hohen Arbeitslosenquote - in diesem Fall das sächsische Bautzen - mit dem Mangel an Mitarbeitern in Freising zusammenzubringen (siehe Teil 8 der Serie vom 28. Mai).

Bewerber stehen Schlange

Anfangs sei es schwierig gewesen, Anhänger für die Idee zu finden, sagt Güßgen. Viele örtliche Betriebe und allen voran der Kreishandwerksmeister waren skeptisch. Natürlich haben viele sich gefragt, ob die Bewerber die nötige Qualifikation mitbringen und ob sich Menschen, nur für einen Arbeitsplatz, einfach so verpflanzen lassen. Inzwischen sind alle Beteiligten laut Güßgen "hellauf begeistert". Und immerhin mehr als 300 Menschen aus Bautzen, wo die Arbeitslosenquote bei gut 21 Prozent liegt, haben in den vergangenen Monaten in dem bayerischen Landkreis eine Arbeit gefunden.

Die Bewerber kommen zunächst für eine Schnupperphase von zwei Monaten. In dieser Zeit werden sie sozial betreut, so werden etwa Treffen für die Neu- Freisinger organisiert, es finden Fahrten in die alte Heimat statt und Familienangehörige, die mit umziehen, erhalten Hilfe bei der Jobsuche. Um eine Unterkunft für ihre neuen Mitarbeiter kümmern sich die Betriebe, das Arbeitsamt Bautzen zahlt jedem, der an der Aktion teilnimmt, eine Aufwandspauschale von 3000 DM. Inzwischen stehen 3000 Bewerber Schlange, die bei dem Projekt mitmachen möchten.

Der Erfolg der Initiative schützt Güßgen nicht vor Kritik. Er spricht das Problem selbst an, bevor die Frage kommt: "Die Diskussion um das Ausbluten des Ostens will ich nicht kleinreden." Natürlich sei es problematisch, wenn den neuen Bundesländern durch solche Projekte womöglich gerade die jungen, guten Leute abgeworben würden. Andererseits gingen die Chancen für diese Menschen, in ihrer Heimat einen Arbeitsplatz zu finden, eben häufig gegen Null. Und Güßgen, sonst eher ein ruhiger Mann, kann sich richtig aufregen, wenn er darüber nachdenkt, dass viele von denen, die jetzt in Freising einer gut bezahlten Arbeit nachgehen, in Bautzen vielleicht auf einer ihren Qualifikationen überhaupt nicht angemessenen ABM-Stelle gelandet wären. Deshalb findet er auch, dass die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit nicht optimal verteilt sind. "Wir sagen, hier zu investieren bringt mehr, weil unsere Arbeit in Beschäftigung mündet. Woanders dienen die Mittel oft nur zum Erhalt des sozialen Friedens."

Diese Erfahrung hat Bernd Gerke in seinen ersten Jahren in Bremerhaven gemacht. Als damals die Krise begann, sei seinem Amt gar nichts anderes übrig geblieben als massenhaft ABM-Stellen zu schaffen. In der Zeit von 1982 bis 1986 kletterte deren Zahl von 198 auf 1351, heute sind es immer noch gut 550. Von Kollegen aus Süddeutschland hat er früher häufig zu hören bekommen, solche Arbeitsmarktpolitik grenze ja an "Sozialismus". Er hat sich oft gewünscht, dass die Probleme sich durch eine "passive Sanierung" lösen würden, dass die Menschen also einfach in andere Regionen abwandern würden. Passiert ist das bisher nicht. Die Einwohnerzahl in dem Arbeitsamtsbezirk liegt seit Jahrzehnten nahezu konstant bei 225000. Trotz all der Schwierigkeiten in Bremerhaven seien die Menschen zu wenig mobil, klagt Gerke, "viele sind mit dieser Region einfach verwachsen" - ganz so, wie der alte Rickmers-Kran, der vor dem Arbeitsamt in die Luft ragt.

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