Ärztlicher Bereitschaftsdienst:Wenn Dr. Jaeger zweimal schaut

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Im Einsatz von morgens 7 Uhr bis 7 Uhr, und wehe, es geht etwas schief - warum Europas Gerichtshof das deutsche Gesundheitssystem beurteilt.

Von Heidrun Graupner

(SZ vom 9.9.2003) Kiel, im September - Städtisches Krankenhaus Kiel, Chirurgische Klinik, Station 5c, nachmittags, 15.45 bis 18.00 Uhr: Die Tür zum Wachzimmer steht offen, zwei Ärzte beugen sich tief über das Krankenbett. Der Assistenzarzt Dr. Norbert Jaeger und Stefan Eschenfelder, ein junger Arzt im Praktikum, behandeln einen Patienten, unruhig bewegt sich der Mann. Die Zeit spielt keine Rolle. Zwar verwandelt der Zeiger der Uhr um 15.45 Uhr ihren normalen Dienst in den Bereitschaftsdienst, doch hat diese Zeitrechnung nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Um 7.15 Uhr hat der hektische Arbeitstag begonnen, und es sieht nicht so aus, als werde sich etwas ändern. Drei Notfälle wurden eingeliefert, drei Operationen stehen auf dem Programm. "Offiziell haben wir seit 15.45 Uhr Ruhezeit", sagt Norbert Jaeger, "nach dem Arbeitszeitgesetz ist der Bereitschaftsdienst Ruhezeit und keine Arbeitszeit."

So ist es jedenfalls Rechtslage in Deutschland. Als 2000 der Europäische Gerichtshof hingegen auf eine Klage spanischer Ärzte hin den ärztlichen Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit einstufte, begannen im Städtischen Krankenhaus Kiel 50 Ärzte gegen ihre unerträglich langen Dienste von 24 oder 32 Stunden zu protestieren. Die Bundesregierung weigert sich jedoch, das Urteil anzuerkennen, und am heutigen Dienstag spricht der Europäische Gerichtshof nun ein zweites Urteil, vor dem Berlin nicht ausweichen kann. Kläger ist Dr. Norbert Jaeger aus dem Städtischen Krankenhaus in Kiel, das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein leitete 2002 seine Klage nach Luxemburg weiter.

Druck von oben

Es ist ein absurder Streit - um ausgebeutete Ärzte, gefährdete Patienten und sehr viel Geld. Der Kieler Sozialdezernent Adolf-Martin Möller rechnet mit einer Million Euro Kosten für seine Städtische Klinik, sollte der Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit gewertet werden. Bundesweit müssten bis zu 27.000 Klinikärzte eingestellt werden, die Kosten betrügen bis zu 1,7 Milliarden Euro - zu viel Geld für Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die nicht daran denkt, das Arbeitszeitgesetz zu ändern. Die Stadt Kiel wurde nicht müde zu betonen, Ärzte hätten während der Nacht hübsch Zeit zu ruhen, im Durchschnitt 51 Prozent des Dienstes.

Die Bundesregierung schickte Bevollmächtigte nach Luxemburg, die dem Gerichtshof Erstaunliches erklärten: Im Bereitschaftsdienst könne sich der Arzt in einem Hotel aufhalten. "Es bestehen auch keine Beobachtungspflichten. Ferner erfolgt die Arbeitsaufnahme erst nach Anforderung durch den Arbeitgeber und nicht aus eigener Initiative." Arbeitgeber, heißt es, sind die Schwester und der Patient.

Die Realität ist anders. Um 16.30 Uhr schaut Jaeger aus eigener Initiative nach einer Frischoperierten. Stefan Eschenfelder, der junge Arzt im Praktikum, der hier nur AiP-ler heißt, muss in die Urologie zu einer Bluttransfusion; Oberarzt Dr. Wolfhart Priesack, der dritte im Team, untersucht die drei Notfall-Patienten. Gegen 17 Uhr beginnt Jaeger mit der Visite. Fünf Minuten später läutet sein Telefon: ein Kind wird in eine andere Klinik verlegt, er soll es begleiten. In der Station bleiben die Schwestern und eine Studentin im Praktischen Jahr, die zufällig anwesend ist. Bis 24 Uhr wird sie helfen und den Ärzten viele Stunden Zeitgewinn verschaffen. Um 17.35 Uhr beginnt Priesack mit der ersten Operation, der AiPler soll assistieren, obwohl er mit der Transfusion noch nicht fertig ist. Die Station ist ohne Arzt.

Abends, 18.00 bis 20.15 Uhr: Dr. Jaeger kommt von der Notfallfahrt zurück. Schon an der Tür spricht ihn eine Schwester an, eine Transfusion soll er anhängen. Um 18.50 Uhr hat er erst bei zehn der 32 Patienten die Visite gemacht. Zwei Kranke muss er über ihre morgige Operation aufklären, für andere Patienten Entlassungspapiere schreiben. Die Studentin wird in den Operationssaal gerufen. Wäre sie nicht da, müsste jetzt Jaeger gehen, in der Station fehlte dann wieder der Arzt. Müde wirkt er und ungeduldig. Im Flur steht ein besorgter Angehöriger, 20 Minuten dauert das Gespräch. Auch danach kommt Jaeger mit der Visite nicht weiter: Ein Patient hat sich eine Infusion herausgerissen, er blutet stark.

Dass gegen solchen Stress in dieser Klinik einmal 50 Ärzte protestiert haben, ist nicht mehr zu spüren. Einige wenige haben vor den Arbeitsgerichten geklagt, es kam zu Zerwürfnissen, und es gab Gegenreaktionen, die Jaeger noch immer schmerzen. Der Ärztliche Direktor Fred Brix erzählt nicht ohne Genugtuung, dass viele Ärzte beim Bereitschaftsdienst bleiben wollten, auch weil sie auf den zusätzlichen Verdienst von monatlich 500 bis 700 Euro nicht verzichten könnten. Assistenzärzte verdienen wenig, im Schnitt um die 3000 Euro brutto im Monat. Was Brix nicht sagt, ist, dass der Protest auch durch den von oben ausgeübten Druck verstummt ist, aus der Furcht heraus, der Karriere zu schaden.

Norbert Jaeger ist 43, er hat seine Karriere eigentlich noch vor sich. Seit zehn Jahren arbeitet er in Kiel, zur Zeit auf einer Dreiviertel-Stelle, mit sechs bis acht Bereitschaftsdiensten im Monat und 60 Arbeitsstunden in der Woche. Nun hat er sich mit seinem Alleingang nach Luxemburg bei seinen Vorgesetzen nicht gerade beliebt gemacht. Er steckt dies nicht einfach weg, auch wenn er als aktives Mitglied der Ärzteorganisation Marburg Bund schon öfter angeeckt ist. "Aber diese Sache muss gemacht werden", sagt er. Jaeger hat einmal als Arzt im südafrikanischen Lesotho gearbeitet und dort nach eigenen Worten erkannt, wie wichtig es ist, "ein System für die Gesundheit aufzubrechen. Doch ich muss Abbitte leisten für meine Meinung über Lesotho. In Deutschland ist alles viel schlimmer."

Pause nach zwölf Stunden

Abends, 19.30 bis 22 Uhr: Norbert Jaeger macht Pause, die erste seit 7 Uhr, "sie ist lebensnotwendig." Kaffee kocht er sich, die Schwestern spenden ein Stück Kuchen, Krankenhausärzte leben ungesund. Sein ganzes Streben sei schon jetzt, Kräfte zu schonen, sagt er, denn auch um ein Uhr nachts habe ein Patient Anspruch darauf, von keinem übermüdeten Arzt behandelt zu werden. Um 20.15 Uhr versucht er, mit der Visite weiterzukommen, nach 30 Minuten wird er zu einem Kind geholt. Um 21.15 Uhr sind Oberarzt Priesack, der AiPler und die Studentin mit den drei Operationen fertig, alles ist gut gegangen. Der AiPler hat nur zehn Minuten Pause, die Urologie braucht ihn dringend wieder.Der Oberarzt lehnt an der Flurwand, er hat tiefe Augenringe. Es macht ihm nichts, wie er sagt, dies ist sein letzter Bereitschaftsdienst. Der 63-Jährige geht in den Vorruhestand, und er ist nicht der einzige, der geht.

Als Wolfhart Priesack sich vor drei Jahren an die Spitze des Protests stellte, glaubte er, er sei zu alt, um seine Karriere zu gefährden. So erzählte er, was 24- oder 32-Stunden-Schichten und demotivierte Ärzte bedeuten; er erzählte, dass im Kieler Krankenhaus aus Übermüdung Behandlungsfehler passiert sind und dass die Müdigkeit auch Ärzte gefährdet: ein Stich mit einer gebrauchten Injektionsnadel kann Aids bedeuten. Die Krankenhausleitung hat ihm dies nicht verziehen, hat ihm vorgeworfen, er schädige den Ruf des Hauses und treibe es in die Pleite. Die Kündigung wurde ihm angedroht, er erhielt zwei Abmahnungen, die er abwehren konnte, als stellvertretender Chefarzt wurde er abgesetzt. Geschwiegen hat er dennoch nicht, weil ihm Angst wird, wenn er an die Zukunft der Krankenhäuser denkt: "Es kommt zum Crash". Wie sein Sohn wollen sich viele angehende Mediziner nicht mehr diesem Stress bei schlechter Bezahlung aussetzen, sie gehen in die Industrie oder ins Ausland. Mehr als 3000 Stellen lassen sich derzeit in deutschen Kliniken nicht besetzen, weil die Ärzte fehlen.

Ewig kann man nicht weitersparen, das sieht auch der Sozialdezernent Adolf-Martin Möller ein. Er geht noch weiter, auch wenn er damit dem eigenen Prozessgegner recht gibt: "Ich halte die Klage von Dr. Jaeger gegen den Bereitschaftsdienst für berechtigt."

Nachts, 22 bis 24 Uhr: Dr. Priesack zieht sich zurück, weil er auch am nächsten Tag Dienst hat, insgesamt 32 Stunden. Die anderen werden ihn nur im Notfall wecken. Er hat Glück in dieser Nacht, alle Betten sind belegt, die Klinik wurde von der Rettungsleitstelle abgemeldet, der Notarzt wird sie nicht anfahren. Von 22 Uhr an muss das Bereitschaftsteam die Ambulanz mitbetreuen. Jaeger lässt sich dort über die vergangenen Stunden informieren, danach schaut er sich die neuen Laborwerte einer Patientin an, beunruhigende Werte. Er untersucht die Frau, entdecken kann er nichts. Noch einmal sieht er auf die Zahlenkolonnen: "Es kann passieren, dass man in einen Sekundenschlaf fällt und etwas Wichtiges nicht wahrnimmt." Auf bis zu 20 Prozent steigt die Fehlerquote bei Übermüdung an, das sagt auch der Ärztliche Direktor Fred Brix. Jaeger hält das Röntgenbild der Lunge der Patientin hoch, einen Spezialisten würde er jetzt gern fragen. Aber um diese Zeit ist niemand mehr da. Ihn quält die Verantwortung, die nachts viel größer ist als am Tag, "alles muss man allein beurteilen und entscheiden."

Um 23.25 Uhr ruft die Ambulanz an, zwei Frauen mit Rückenschmerzen verlangen nach einem Arzt. Jaeger kann nichts Schlimmes finden. Im hellen Licht sieht sein Gesicht grau aus, "ich möchte jetzt nicht mehr von mir operiert werden", sagt er. Er lästert über die Gesundheitsministerin, die erklärt hat, das Arbeitszeitgesetz erlaube nicht, dass übermüdete Ärzte Dienst tun. Kurz vor 24 Uhr ist er wieder in der Station. 15 Arztbriefe müsste er noch schreiben.

Die Ambulanz meldet um 23.50 Uhr den nächsten Notfall, der AiPler übernimmt ihn. Ein Mann mit verstauchten Knöchel, eine alte Verletzung. "Und dann kommt er um Mitternacht hierher", sagt Stefan Eschenfelder verärgert. Doch aus der Ambulanz darf niemand weggeschickt werden. Der Begleiter des Mannes telefoniert mit seinem Handy, er reagiert nicht auf die Bitte, es auszustellen. "Sie fliegen gleich raus", ruft Eschenfelder wütend. Der Mann macht eine aggressive Bewegung, dann kommt er der Aufforderung nach. Manchmal bleibt es nicht bei einer Geste; gestern musste die Polizei geholt werden, weil ein Betrunkener, der sich beim Hafenfest verletzt hatte, zuschlug. In dieser Nacht war die Hölle los, Schnittwunden, Knochenbrüche, ein Suizidversuch. Das Bereitschafts-Team arbeitete hundert Prozent der Zeit. In der Station war kein Arzt.

Das Bett im Schrank

Stress hin, Stress her - Verwaltungdirektor Roland Ventzke spricht vom Wünschenswerten und vom Machbaren und davon, dass man die Tarifvereinbarungen einhalte. "Wir müssen aus ökonomischen Gesichtspunkten die volle Produktivität der Mitarbeiter nutzen." Das Krankenhaus kann sich nichts mehr leisten. 2,5 Millionen Euro Defizit hat es 2001 erwirtschaftet, seither steckt es in den roten Zahlen, im Rathaus überlegt man schon, die Klinik zu privatisieren, mit einem entscheidenden Effekt: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gilt nicht für private Kliniken.

Nachts, 24 bis 3.30 Uhr: Die beiden Ärzte arbeiten seit 17 Stunden, mit dem Auto dürften sie nicht mehr fahren, sie könnten sich strafbar machen. Der AiPler schaut nach dem Patienten in der Urologie, dann geht er um 0.25 Uhr schlafen. Auch Jaeger klappt im Arztzimmer das Bett aus dem Wandschrank, es füllt den Platz vor dem Schreibtisch. Elf Quadratmeter misst das Zimmer. Um ein Uhr läutet das Telefon, der Stationspfleger hat eine Frage. Kaum ist er eingenickt, kommt um 1.30 Uhr der nächste Anruf, Jaeger gibt telefonisch Rat.

Es fällt schwer, wieder einzuschlafen. Man wartet auf das nächste Klingeln des Telefons, auf das Unvorhersehbare, man liegt in einem Meer der Unsicherheit. "Man denkt darüber nach", sagt Jaeger, "ob man etwas falsch gemacht hat". 3.10 Uhr: ein Anruf aus der Ambulanz, ein Patient mit Bauchschmerzen. "Hoffentlich ist es nichts, bei dem man viel denken muss", sagt Jaeger, als er mit starrem Blick die Tür öffnet. Nach 20 Minuten hat er dem Mann geholfen. Bevor er sich wieder hinlegt, geht er zu der Kranken mit den schlechten Werten.

Morgens, 3.30 bis 9.30 Uhr: Der AiPler Eschenfelder hat Jaeger abgelöst. Um 3.45 Uhr kommt eine Frau mit Nackenschmerzen in die Ambulanz. Eschenfelder stellt Verspannungen fest und gibt ein Schmerzmittel. Noch während der Behandlung ruft der Stationspfleger an, eine Patientin beunruhigt ihn. Um 4.15 Uhr ist Eschenfelder in der Ambulanz fertig, bis kurz vor 5 bemüht er sich um die Kranke. Dann wird es ruhig.

Um 7 Uhr beginnt der normale Tag nach einer ganz normalen, ruhigen, zermürbenden Nacht. Wie alle anderen ist Dr. Norbert Jaeger bei der Morgenvisite, dreieinhalb Stunden hat er durchgeschlafen. Im Erdgeschoss beginnen die Vorbereitungen für die Einweihung der neuen Eingangshalle, 560000 Euro kostet sie. Jaeger könnte um 8.15 Uhr nach Hause gehen, doch um 9.30 Uhr ist er immer noch da. Einem Patienten geht es schlecht, und er war als einziger Arzt greifbar. Hilflos zuckt er mit den Schultern und verschwindet im Krankenzimmer.

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