Diagnostik:Krebsexperten: Viele Überdiagnosen bei Schilddrüsenkrebs

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Die meisten Patienten mit Tumoren in der Schilddrüse werden operiert, bestrahlt oder mit anderen Behandlungen belästigt, ohne dass sie deshalb länger leben, mahnen Ärzte. Besonders in reichen Ländern wird zu viel untersucht.

Von Werner Bartens

Schilddrüsenkrebs wird immer häufiger entdeckt. Bei einem Großteil dieser Fälle handelt es sich jedoch um Überdiagnosen, das heißt ein Tumor wird zwar gefunden, führt aber zeitlebens nicht zu Beschwerden oder gar einem vorzeitigen Tod. Dass derartig überflüssige Untersuchungen die Patienten nur verunsichern, sie aber keinen Nutzen von der Diagnose haben, kritisieren Krebsexperten aus Frankreich und Italien im New England Journal of Medicine.

"Länder wie die USA, Frankreich und Italien sind besonders schwer von Überdiagnosen betroffen, nachdem in den 1980er-Jahren die Ultraschalluntersuchung des Halses eingeführt wurde", sagt Studienleiter Salvatore Vaccarella von der Internationalen Krebsforschungsagentur in Lyon. "Aber das jüngste und extremste Beispiel ist Südkorea, wo bis zu 90 Prozent der entdeckten Schilddrüsentumore bei Frauen Überdiagnosen sind."

"Die meisten Patienten mit Tumoren werden operiert, bestrahlt oder mit anderen Behandlungen belästigt"

In Australien, Frankreich, Italien und den USA liegt der Anteil bei 70 bis 80 Prozent, in Großbritannien, Skandinavien und Japan bei 50 Prozent. Deutschland nahm nicht an der Studie teil. Bei Männern liegt der Anteil geringer, sodass die Autoren schätzen, dass in den zwölf analysierten Ländern 470 000 Frauen und 90 000 Männer in den vergangenen 20 Jahren mit dem Befund Schilddrüsenkrebs eine Überdiagnose erhielten.

Mit der Verbreitung von Ultraschall, CT und Kernspin wurde eine Vielzahl schmerzfreier Veränderungen in der Schilddrüse entdeckt, die nie Symptome verursachen. "Die meisten Patienten mit überdiagnostizierten Tumoren werden jedoch operiert, bestrahlt oder mit anderen Behandlungen belästigt, ohne dass sie deshalb besser oder länger leben", sagt Krebsexpertin Silvia Franceschi. In Südkorea hat sich die Diagnose in den vergangenen 25 Jahren zwar verzehnfacht, die Häufigkeit der Todesfälle durch den Tumor ist aber gleich geblieben. Der Regensburger Gesundheitswissenschaftler David Klemperer warnt deshalb davor, dass auch in Deutschland "eine der größten Bedrohungen für Patienten unangemessene Untersuchungen und Behandlungen" sind.

© SZ vom 19.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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