Zum Tod von Otto Steidle:Die hohe Kunst des Wohnens

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Der Architekt und Stadtplaner ist am Sonntag überraschend gestorben. Mit dem Wohnhochhaus auf der Theresienhöhe hat er zuletzt in München ein neues Wahrzeichen gesetzt.

Von Gottfried Knapp

Wer das Lebenswerk von Otto Steidle in aller Kürze charakterisieren will, kommt um die berühmte Formulierung von Milan Kundera kaum herum: Die elementare "Leichtigkeit", mit der Steidles Bauten den städtischen Raum in Besitz nehmen - sie hatte immer schon etwas "Unerhörtes".

Neues Kapitel in der Geschichte des Wohnungsbaus

Als der gerade mal 26 Jahre alte Absolvent der Münchner Staatsbauschule und der Münchner Kunstakademie 1969 in der Genter Straße seiner Heimatstadt München eine Wohnsiedlung für sich selber, für einige Freunde und für Leute, die bei der Dimensionierung ihres Lebensraums mitreden wollten, zu bauen begann, war noch nicht zu ahnen, dass damit ein neues Kapitel in der Geschichte des Wohnungsbaus in Deutschland aufgeschlagen wurde.

Unerhört waren jedenfalls die auf einem Raster postierten rohen Betonpfeiler mit ihren demonstrativ gereckten, astartigen Auskragungen, auf denen die Wohnetagen verankert und nach Bedarf der Nutzer ausgebaut wurden. Steidle enthielt sich in dieser Siedlung also jeder Form von ästhetischer Gestaltung; er ließ ein gleichmäßig gegliedertes Gestell errichten, in dessen Einheiten sich jeder Inhaber mit geschlossenen, verglasten Kuben und offenen Terrassen individuell einrichten konnte. Die Nutzer sorgten also nicht nur für Leben im Quartier, sie bestimmten mit ihren Wünschen auch das Aussehen der Häuserfolge, das von Anfang an auf Veränderung angelegt war.

Unerhörte Klarheit als Maxime

Gleich mit seiner ersten architektonischen Setzung führte Steidle also in unerhörter Klarheit eine Maxime seines künftigen Schaffens vor: Nicht die Architektur darf die Formen des Lebens, die sich in ihr ereignen, bestimmen, nein, das Leben muss die Formen bestimmen, in denen sich die Architektur ergeht. Auf stadträumliche Zusammenhänge angewandt, lässt sich dieser Satz zu einer zweiten Maxime erweitern: Nicht die Architektur darf die Formen des Zusammenlebens und das Aussehen eines neugeschaffenen Quartiers bestimmen, nein, die Bedürfnisse der Bewohner müssen sich in den Formen niederschlagen; die Stadt mit ihren Funktionen reguliert das Aussehen und die Anordnung der Einzelbauten im Zusammenhang.

Steidles Wahrzeichen in Hamburg

Beim riesigen Verwaltungszentrum für Gruner & Jahr in Hamburg (1983 - 1990) hat Otto Steidle in Zusammenarbeit mit seinem Münchner Kollegen Uwe Kiessler diese städtebaulichen Prinzipien besonders klar vorgeführt. Die Hamburger Bevölkerung, die an geschlossene, nach außen kühl abweisende Blöcke gewohnt war, musste sich an die lockere Struktur des Pressequartiers erst gewöhnen. Steidle und Kiessler ließen die schmalen, parallel auf die Elbe zulaufenden Gässchen des im Krieg zerstörten "Gängeviertels" wieder aufleben, indem sie vier parallele, weitgehend in Glas und Stahl aufgelöste, von Laufgängen flankierte Gebäudetrakte auf das Elbufer zulaufen ließen, also den langen Riegelbauten eine Folge von hellen, individuell gestaltbaren Höfen zuordneten und einen öffentlichen Weg schräg durch das Ensemble freischlugen.

Freiheit der Universität Ulm

In den Großstrukturen der Universität auf dem Ulmer Eselsberg (1988 - 1994) hat Steidle die in Hamburg erprobte Freiheit dann souverän ausgeweitet: Zur offenen Landschaft hin macht dort ein schier endlos langer, locker aufgeständerter und mit seinen vielen Holzelementen fast improvisatorisch leicht wirkender Riegelbau höchst lebendig Figur. Wie ein Rückgrat schickt dieser Trakt vier Gebäuderippen in den Campus hinein, an denen die ganz unterschiedlich dimensionierten Instituts- und Hörsaaltrakte aufgereiht sind.

Der fast malerische Reiz des Ensembles rührt aber nicht nur von den entschieden differenzierten Formen der Einzelbauten her, das Neben- und Miteinander von ragenden, schlanken Türmen und ausladenden Flachbauten wird durch die Kraft der Farben zusätzlich belebt. Steidle hat wie kaum ein anderer deutscher Architekt der Farbe als Wirkungsmittel beim Bauen wieder Geltung verschafft; ja in rhythmisch geordneten Ensembles wie dem Wackerhaus an der Prinzregentenstraße (gegenüber dem Haus der Kunst) in München hat er der dreidimensionalen Ordnung der architektonischen Abfolge durch die machtvoll strukturierenden, absichtsvoll unterschiedlich lauten Farben eine vierte Dimension übergestülpt, die in ihrer direkten Emotionalität, in ihrer Leichtigkeit durchaus etwas Unerhörtes hat.

Sieger vieler Wettbewerbe: Otto Steidle

In den letzten Jahren hat Otto Steidle so viele städtebauliche Wettbewerbe in Deutschland gewonnen, dass die Beobachter der Architekturszene glauben mussten, seine Zeit, die Zeit, in der er das Baugeschehen in Deutschland wesentlich mitbestimmt hat, habe eben erst begonnen. Und wer ihm in den letzten Wochen begegnet ist - etwa bei der Eröffnung der Ausstellung zu seinem 60. Geburtstag in der Pinakothek der Moderne in München -, der hat eine Persönlichkeit von beneidenswerter Sicherheit im Denken wie im Tun erlebt.

Umso schockierender ist die Nachricht, die am Sonntagnachmittag in den Redaktionsalltag einbrach: Otto Steidle ist in seinem Bauernhof in Niederbayern, den er nicht nur zur Rekreation aufsuchte, sondern in freien Stunden real bewirtschaftete, beim Verlassen des Hauses zusammengebrochen. Das Unerhörte dieser Nachricht lässt das Werk, das über die Jahrzehnte so lebendig geblieben ist, plötzlich in intensiver Verdichtung erscheinen. Und das Wohnhochhaus im neu strukturierten Stadtquartier auf der Münchner Theresienhöhe, mit seinen munter nach allen Seiten ausfahrenden Balkonen und seiner schönen Farbigkeit, wird angesichts der aufkeimenden Hochhaus-Feindlichkeit in München zu einer vitalen Markierung, wie sie die verzagte Bauöffentlichkeit dieser Stadt dringend braucht.

© SZ vom 1.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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