Zehn Umzüge in 15 Jahren:Immer fröhlich bleiben

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Die gegenwärtige Wirtschaftslage züchtet einen neuen Menschen heran: Der "homo fluctuans" verbringt sein Leben zwischen Umzugskartons, Billy-Regalen und Ravioli - immer bereit wieder die Koffer zu packen.

Von Kurt Kister

Wenn man einen Personalchef, einen Unternehmensberater oder einen leitenden Wirtschaftsredakteur fragt, was wichtig ist für die Gesundung der Firma, die Binnenkonjunktur oder den Aufschwung generell, dann sagt er: Flexibilität.

Anständige Arbeitnehmer packen heutzutage alle paar Jahre ihre Koffer - pardon - Kartons und ziehen wiedermal um. Es lebe die Flexibilität! (Foto: Foto: Photodisc)

Flexibilität heißt, dass der Mensch sich biegen soll und verbiegen lassen muss, weil die Wirtschaft nicht gut für den Menschen ist, der Mensch aber gut für die Wirtschaft zu sein hat.

Was die Wirtschaft nicht mag, das sind Angestellte, die 30 Jahre lang an einem Ort in einem Büro sitzen und dafür immer mehr Geld haben wollen. Geschätzt dagegen werden in der Wirtschaft Menschen, die ohne nennenswerte Vertragsverhältnisse ein paar Monate arbeiten und dann, wenn man sie nicht mehr braucht, wieder ihrer Wege gehen.

Oralverkehr mit Dackel

So lange sie da sind, sollen sie fröhlich und motiviert sein. Wenn sie gehen, sollen sie dabei fröhlich bleiben und nicht auf Festanstellung klagen. Das ist Flexibilität.

Festanstellung ist für einen durchschnittlichen Unternehmensberater etwas Obszönes, ungefähr so obszön wie Oralverkehr mit einem Dackel. Der Personalchef wiederum scheut noch mehr als die Geschichte mit dem Dackel: den Planstellenaufbau.

Wenn er sich in seinem dunkelblauen Mercedes-Kombi mit den cremefarbenen Ledersitzen vom Navigationssystem nach Hause leiten lässt, denkt er meistens darüber nach, wie er in diesem Jahr noch einmal 14,7 Vollzeitäquivalente - das sind Menschen mit festen Verträgen - einsparen kann, ohne größeren Ärger mit dem Betriebsrat zu kriegen. Weil die Lage ernst ist, denkt der Personalchef, muss jetzt auch der Betriebsrat mal flexibel sein.

Klaglos fluktuiert

Als anständiger Arbeitnehmer versteht man das alles. Ich zum Beispiel bin mein Leben lang ein anständiger Arbeitnehmer gewesen. Wann immer die Gefahr bestand, dass ich zu lange eine Planstelle blockiere, bin ich umgezogen.

Die Flexibilität von Chefs nämlich erweist sich darin, dass sie eine möglichst große Fluktuation unter ihren Mitarbeitern erzeugen. Der Mitarbeiter dagegen ist flexibel, wenn er klaglos fluktuiert.

Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin seit 1990 insgesamt zehn Mal umgezogen. Manchmal hatte das private Gründe, meistens aber befand mein Arbeitgeber, dass ich an einem neuen Platz der Zeitung mindestens weniger Schaden zufügen würde als am alten.

Hauptqualifikation: Umziehen

So habe ich mein Leben in den letzten fünfzehn Jahren zwischen München, Washington, Bonn, Berlin und dann wieder München hin und her bewegt. Weil mir das noch zu unflexibel erschien, bin ich außerdem auch innerhalb der jeweiligen Städte jeweils mindestens einmal umgezogen.

Ich kann also mit Fug und Recht sagen, dass die Hauptqualifikation, die ich mir in meinem Berufsleben angeeignet habe, die des Umziehens ist. Wenn man sich so leidenschaftlich in die Arme der Flexibilität wirft, gewinnen Dinge im Leben eine Bedeutung, die der durchschnittliche homo stabilis nicht zu schätzen weiß.

An erster Stelle steht dabei eindeutig der Karton. Für den homo fluctuans ist der Umzugskarton ein Element der Stabilität, ein gestaltverändernder Freund, auf den stets Verlass ist. Liegt er flach im Flur, weiß man: Es ist wieder soweit.

Wohnst du noch oder lebst du schon?

Nachts vor einem Umzug umschleicht man die Kartonstapel mit einem Gefühl, das sich aus Abscheu, Vorfreude und Schicksalsergebenheit zusammensetzt. Es gibt fast nichts, was nicht in einen oder mehrere Umzugskartons passt, und wenn, dann sind es jene impedimenta, deren Zahl proportional zur Zahl der Umzüge abnimmt.

Am Anfang einer Umzugskarriere zum Beispiel hat man noch Möbel. Unter diesen Begriff fallen nicht jene Nutzgegenstände, die man zum vorübergehenden Gebrauch bei Ikea am Rande der großen Städte erwirbt, dessen Marketingstrategen die blöde Frage stellen: "Wohnst du noch oder lebst du schon?"

Der homo fluctuans wohnt weder noch lebt er wirklich. Er hält sich nur auf. Ein vernünftiger Gefährte zum Zwecke des Aufenthalts ist Billy, das Regal. Billy ist in Wirklichkeit eine Abart des Umzugskartons, und ich bin mittlerweile in der Lage, den "200er"-Billy in der gleichen Zeit zu entfalten wie sieben große Umzugskartons.

Billy forever

Im Laufe meines flexiblen Lebens habe ich ungefähr 35 Billys verbraucht, die es - so ähnlich wie Aspirin und Ravioli in der Dose - glücklicherweise an jedem meiner Aufenthaltsorte zu kaufen gab. Besonders froh war ich, als ich entdeckte, dass sie auch bei Washington - ganz in die Nähe des Schlachtfeldes von Manassas in Virginia - ein Ikea auf die Wiese gestellt hatten!

Dort erwarb ich etliche Billys, die ich in mehreren Fuhren auf dem Rücksitz meines zu diesem Zwecke geöffneten Cabrios über den Highway nach Washington schaffte. Für ein mobiles, flexibles Leben braucht man nicht wesentlich mehr als Billys, Aspirin und Ravioli.

München ist für den homo fluctuans fast schon zu wunderbar. Vor allem aber zu teuer. (Foto: Foto: AP)

Möbel im engeren Sinne habe ich eigentlich nur zwei. Das eine ist ein altes Küchenbuffet, das aus der Wohnung meiner Oma stammt. Es ist nicht besonders schön, aber ich mag es sehr. Notfalls kann ich in seinem unteren Teil schlafen, zumindest wenn ich die Regalbretter herausnehme.

Delfin-Tisch

Das andere ist ein absurder Tisch aus Miami, den ich mir in Amerika zu einer Zeit gekauft habe, als ich noch dachte, es sei langsam an der Zeit, Möbel zu besitzen. Das denke ich schon längst nicht mehr.

Den Tisch aber habe ich als Mahnmal an jene Zeit behalten, in der es mir kurzzeitig so erschien, als sei es erstrebenswert, länger als zwei Jahre in einer Wohnung zu bleiben. Die Leute der Umzugsfirma, mit der ich die letzten fünf Mal umgezogen bin, kennen und fürchten mein Miami-Möbel als den "Delfin-Tisch".

Sie nennen ihn so, weil eine schwere Glasplatte auf zwei grünlichen Delfinen ruht, die aus einer Mischung von amerikanischem Gips und kubanischem Stahlbeton bestehen.

Ein Tisch namens Eckard

Der Tisch ist genauso schwer wie hässlich. Wäre der Tisch ein Mensch, so hieße er Eckard von Klaeden. (Das ist das junge Politmöbel, welches für die CDU im Visa-Untersuchungsausschuss spricht.)

Ein Bett habe ich auch, aber das zähle ich nicht zu den Möbeln, weil es ebenfalls von Ikea (Berlin) stammt. Im Laufe meiner Umzüge habe ich drei Bettgestelle verschlissen, darunter eines von Ikea-Washington.

Letzteres war mir aus den verschiedensten Gründen ans Herz gewachsen, unter anderem auch, weil es ungeheuer schwierig ist, ein Bettgestell einschließlich Matratze (King Size) in einem nicht großen Cabrio 46 Meilen über den Highway zu transportieren.

Aspirin, Ravioli, Taschenbücher

Wichtig für den homo fluctuans sind möblierte Wohnungen. Es gibt Momente im Leben, in denen man dringend eine Wohnung benötigt, die man länger als ein Hotelzimmer, aber doch wieder nicht viel länger als ein paar Monate oder maximal ein Jahr braucht.

In diese Wohnungen nimmt man am besten nichts mit, außer vielleicht Aspirin, Ravioli und Taschenbücher. Die Idee, man müsse es sich gemütlich machen, ist blödsinnig.

In Washington habe ich einmal möbliert gewohnt, relativ nahe am Fluss. Nachts hat es immer komisch gewispert in dem Zimmer, und ich war fast sicher, dass einer meiner Vormieter sich oder jemanden anderen in dieser Wohnung umgebracht hatte.

Lastenaufzug und Laderampe

In Bonn wiederum wohnte ich ebenfalls möbliert, und da wusste ich, dass in eben dieser Wohnung vor nicht langer Zeit die Mutter des Vermieters gestorben war, weswegen der Vermieter dann die Wohnung mit den Möbeln der Mutter an mich vermietet hatte.

Ich habe mich nie wieder in einer Wohnung aufgehalten, die so hervorragend für Umzüge geeignet war wie mein Two-Bedroom-Apartment in Washington. Dies war außerdem sehr beruhigend, weil man in einer Wohnung mit Lastenaufzug und Laderampe gar nicht erst auf die Idee kommt, sich heimisch fühlen zu wollen. Das mit dem Heimatgefühl kann übel enden.

Das war auch nicht übermäßig gemütlich, obwohl der Mann vor meinem Einzug extra noch zwei linksrheinisch anmutende Zimmerpflanzen aufgestellt hatte, um das Todes-Ensemble aufzulockern.

Die ideale Wohnung in dieser Hinsicht war meine dritte Wohnung in Washington. In dem Apartmenthaus gab es nicht nur zwei Personenlifte, sondern auch noch einen Lastenaufzug sowie eine Laderampe am Rückgebäude, an die der Umzugswagen direkt vorfahren konnte.

Schränke hatte ich schon lange nicht mehr, weil man die in Amerika, wo es überall Einbauschränke gibt, frohgemut wegwerfen kann. Für den Müll gab es einen Müllschacht auf dem stets menschenleeren Flur. Die Wäsche konnte man einmal in der Woche dem freundlichen doorman geben, der in einem früheren Leben ein Oppositionspolitiker in Pakistan gewesen war.

Desaster Möbelsuche

Wer häufig umzieht, der weiß, dass es ein großer Fehler ist, wenn man Wohnungen danach aussucht, ob sie "schön" sind. Erstens sind schöne Wohnungen teuer. Zweitens möchte man in schönen Wohnungen - Südbalkon, Seeblick, Altbaustuck, Garten - bleiben.

Man beginnt dann, sich Möbel zu kaufen, was in aller Regel ins Desaster (Delfintisch) führt. Wohnungen müssen zweckmäßig sein, über einen Aufzug zu erreichen sein, möglichst viele Billys aufnehmen können, über einen stets präsenten Hausmeister verfügen und außerdem lange Flure haben, damit man dort Umzugskartons stapeln kann.

Im Gegensatz zu meiner dritten Wohnung in Washington hatte meine dortige zweite Wohnung einen offenen Kamin und eine riesige Dachterrasse gehabt. Nach ein paar Monaten begann ich mich wohl zu fühlen und machte mir ernsthaft Gedanken darüber, richtig lange zu bleiben. Dann wurde glücklicherweise das ganze Haus an irgendwelche Investoren verkauft, und ich musste ausziehen.

Schon eingelebt?

Eine der sonderbarsten Fragen, die Sesshafte den Flexiblen stellen, lautet so: "Haben Sie sich schon eingelebt?". Nein, denn bevor der homo fluctuans sich irgendwo einlebt, zieht er wieder weg. Solange irgendwo in der Wohnung, und nicht nur im Keller, noch ein paar unausgepackte Kartons stehen, ist alles in Ordnung.

Der unausgepackte Karton ist für uns so etwas wie für andere Leute das Wochenendhäuschen oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein. Der typische Inhalt des unausgepackten Kartons besteht aus Büchern.

Bücher sind beständigere Freunde als Menschen. Man muss nicht mit ihnen sprechen, sie nicht anrufen, und sie sind nie beleidigt, wenn man sich nicht so verhält, wie sie das wünschen, weil sie nämlich nichts wünschen. Bücher ziehen immer mit und beschweren sich nicht darüber.

Bücher, Bonn, Schlafzimmer

Im Laufe eines längeren peripatetischen Lebens sammeln sich Bücher aus aller Herren Länder und Läden an. Eine Zeit lang kann man sie in den Billys verstauen. Irgendwann werden sie zu viele, man packt sie in Kartons, und da bleiben sie dann.

Bei jedem Umzug sitze ich Stunde um Stunde vor vielen Kartons, die Aufschriften tragen wie "Bücher, Bonn, Schlafzimmer" oder "Books, Washington Circle, Office". Diese Kartons habe ich 1992 oder 1999 eingepackt; der älteste stammt aus dem Jahre 1983.

Wer Bücher wegwirft, verbrennt sie auch irgendwann, und wohin das führt, wissen wir ja. Also nehme ich mir bei jedem Umzug vor, eine Bibliothek, ein Waisenhaus oder eine Schule mit meinen Kartonbüchern zu beglücken, was ich aber nie schaffe, sei es aus zeitlichen oder aus sentimentalen Gründen.

München ist zu wunderbar

Als es rein volumenmäßig nicht mehr ging, habe ich einmal bei einem Umzug zehn Kisten schlichtweg von meinem Kellerabteil in ein anderes Kellerabteil geräumt und sie dort stehen lassen. Es waren vor allem Bücher aus der Studentenzeit ("Bundesrepublik wohin?"), und ich hoffe sehr, dass der damalige Vermieter diese Zeilen nicht liest.

München ist für den homo fluctuans eine ungeeignete Stadt. Erstens ist sie voller Dachschrägen, was der Aufstellung von Billys abträglich ist. Zweitens wollen die Vermieter in München immer noch hohe Mieten, und wenn sie einen für seriös halten, wollen sie lang laufende Verträge abschließen.

Drittens halten die Münchner ihre Stadt aus guten Gründen für wunderbar. Sie können deshalb nicht verstehen, dass man eine Wohnung mieten möchte, um bald wieder auszuziehen.

Warum kaufen sie nicht?

In Berlin, zu schweigen von Washington, ist das anders. (Bonn wollen wir nicht in Betracht ziehen, weil es keinen Grund mehr gibt, in Bonn zu wohnen, es sei denn, man hat sonderbare Gelüste wie etwa jenes, dass man im Wahlkreis von Guido Westerwelle gemeldet sein möchte.)

In Washington ist man verdächtig, wenn man länger als ein Jahr in einer Wohnung zur Miete lebt. Der Amerikaner kauft schnell und verkauft ebenso schnell wieder.

Als ich meine zweite Wohnung am Potomac mietete, fragte mich die Maklerin sofort: "Wie lange wollen Sie bleiben?" Ich sagte: "Ein, zwei Jahre." Sie sagte: "Zwei Jahre? Warum kaufen Sie nicht?" Der Vertrag lief dann auf ein Jahr, was mir sehr entgegen kam. Nach 14 Monaten war ich wieder weg. So muss es sein.

Berlin - ideal für den homo fluctuans

In Berlin habe ich fast alles durchgemacht: erst möbliert, dann Haus mit Garten, schließlich die effiziente ZweiZimmer-Aufzugswohnung. Es gibt in Berlin sehr viele freie Wohnungen, die sehr viel billiger sind als in München, was nicht nur daran liegt, dass Berlin auch sehr viel hässlicher ist als München.

Berlin ist die ideale Stadt für den homo fluctuans, weil man dort nicht mal ernsthaft Aufsehen erregen würde, wenn man mit seinen Kartons unter die Weidendammer Brücke zöge. Dies hat keineswegs damit zu tun, dass der Berliner so tolerant ist. Er nimmt vielmehr außer sich selbst nichts anderes wahr, so dass es ihm schlichtweg egal ist, wer wie wo wohnt oder nicht.

Unter meinen diversen Städten war Berlin eindeutig diejenige, in der sich die Leute am wenigsten um ihre Nachbarn kümmerten, es sei denn der Nachbar war ein Hund. Hunde mag der Berliner lieber als Menschen. Wenn die CDU in Berlin einen Dobermann als Bürgermeister-Kandidaten aufstellen würde, könnte sie damit sogar Klaus Wowereit besiegen.

Auf nach Timbuktu

Nach fünf Jahren Berlin bin ich zu folgender Liste der bei den Berlinern beliebtesten Phänomene gekommen: 1. Hunde, 2. Geld vom Bund, 3. Bratwürste, 4. Wowereit, 5. Parken in der zweiten Reihe.

Manchmal werde ich von Menschen, die mit mir Konversation machen wollen, gefragt, wo ich denn, da ich doch so viel herumgekommen sei, am liebsten leben würde. Ich versuche dann gar nicht erst zu erklären, warum man eigentlich nirgends leben kann, sondern sage nur: in Timbuktu. Ich war einmal in Timbuktu.

Da gibt es ziemlich viele ebenerdige Lehmhäuser (man braucht nicht einmal einen Aufzug); kein Mensch kennt mich dort und will mit mir reden; meistens scheint die Sonne; man trifft kaum Hunde; es gibt keine Unternehmensberater oder Personalchefs; man muss nicht fürchten, dass die Bücher in den Kartons verschimmeln, weil es in Timbuktu immer heiß und trocken ist.

Außerdem wäre es originell, mit einem Delfintisch nach Timbuktu zu ziehen.

© SZ vom 05.03.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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