Wohnformen:Junge ziehen zu den Alten

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Ein Münchner Seniorenstift bringt Junge und Alte zusammen. Anstatt Miete zu zahlen, helfen die Jungen im Alltag.

Tim Rotter

(SZ vom 26.03.2002) "Bei uns gibt es keine Probleme. Denn ich benehme mich immer." Virginia Prechtl zwinkert dem Studenten ihr gegenüber zu. Die 75-Jährige lacht. "Aber er benimmt sich auch - meistens."

"Er" heißt Claudius Schnabel, und studiert Theologie an der Münchener Uni. 53 Jahre Altersunterschied trennen die beiden, zwei Generationen. Doch sind es nicht Oma und Enkel, die sich hier auf einer Terrasse in Pasing die Sonne auf den Kopf scheinen lassen. Bis vor kurzem kannten sie sich noch nicht einmal. Dennoch leben sie seit mehr als vier Monaten zusammen - dank des Projektes "Wohnraum für Hilfe".

Bewährtes Modell

Das Münchener Seniorenstift Neuhausen organisiert seit 1996 das Zusammenleben von Jung und Alt. Jetzt konnte es das fünfjährige Jubiläum feiern. Und zum Feiern ist der Projektleiterin Gisela Frangenheim auch zumute, denn die Idee hat sich bewährt: "Wir vermitteln jungen Leuten ein Zimmer im Haushalt eines alten Menschen. Bezahlt wird nicht mit Geld, sondern mit Hilfe im täglichen Leben." Nur die Nebenkosten fallen an.

Voraussetzung des Bewerbers

61 Wohngemeinschaften haben sich bisher gefunden, 18 alleine im Jahr 2000. Der Anstieg liegt auch daran, dass sich nicht mehr wie früher nur Studenten bewerben können, sondern auch Auszubildende und Berufstätige. Die Hauptsache ist, dass das Verhältnis zum Vermieter passt.

Große Nachfrage

Das prüfen die Mitarbeiter zuvor in Einzelgesprächen mit beiden Seiten. "Außerdem treffen sich die Senioren und ihre potenzielle Untermietern, um sich zu beschnuppern", erklärt Frangenheim. Meistens findet sich für die Vermieter schnell ein geeigneter Bewerber.

Umgekehrt dauert es oft länger, da es so viele Interessenten gibt: 132 hat die Leiterin zur Zeit in ihrer Kartei. Meldet sich ein neuer Vermieter, durchforstet sie die nach passenden Kandidaten: "Denn viele Senioren wissen genau, was für Untermieter sie suchen. Bei einigen müssen sie besonders tierlieb sein, andere wollen nur Männer. Daher haben wir auch fünf Mietangebote, für die wir noch niemanden gefunden haben", macht sie Wohnungssuchenden Mut.

Arbeitseinsatz: eine Stunde pro Quadratmeter

Der Traum von der neuen Bude kann also ganz schnell Realität werden - so wie bei Claudius Schnabel. Als er nach München kam, wohnte er übergangsweise sogar im Kloster, weil selbst für Theologiestudenten gilt: Im Himmel ist für alle Platz, in München dagegen nicht. "Dann habe ich aber im Studentenwerk von dem Projekt erfahren und nur zwei Wochen später hatte ich mein Zimmer."

Beispiel aus der Praxis

Für das hilft er Virginia Prechtl 14 Stunden pro Monat im Haus - eine Stunde pro Quadratmeter Raumgröße. Dieses Verhältnis gilt in den meisten Fällen. In besonders guten Wohnlagen müssen die Untermieter jedoch hin und wieder auch doppelt so viel anpacken - und dennoch ist sich Schnabel sicher: "So billig findet man in München sonst kaum eine Wohnung. Finanziell ist das ein Traum. Und die Arbeiten sind auch nicht hart." Der 22-Jährige geht mit dem Hund raus, trägt Einkäufe ins Haus und kümmert sich um den Garten. "Und wo die Schneeschaufel für den Winter steht, das wissen Sie ja auch", scherzt Virginia Prechtl.

Das "Sie" klingt zwar distanziert, doch ist das Verhältnis der beiden fast schon familiär. Beide gucken zusammen Nachrichten oder lassen sich im Garten Kaffee und Kuchen schmecken. Damit entsprechen sie Frangenheims Eindrücken, dass sich oft echte Oma-Enkel-Beziehungen entwickeln. "Daher wird es der nächste Student auch schwer haben, denn ich werde ihn an Herrn Schnabel messen."

Dass sie sich jedoch wieder einen Untermieter suchen wird, ist für die alte Dame schon klar: "Es ist einfach schön, nicht alleine zu sein." Wie wichtig das ist, hat auch der werdende Theologe bereits erfahren: "Vor ein paar Monaten musste ich mit dem Zug morgens nach Leipzig. Und gerade da habe ich verschlafen." Virginia Prechtl rettete ihn: Trotz ihrer 75 Jahre fuhr sie "ihren" Studenten mit Höchstgeschwindigkeit zum Bahnhof. "Sogar die Butterbrote hat sie mir vorher noch geschmiert", ergänzt er. Wie eine echte Oma eben.

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