Wohnen im Alter:So wunderbar vertraut

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Die Schmerzen im Knie, die Schritte auf dem Flur, der Bestatter im Parterre - wie eine Gemeinschaft von Mietern seit 50 Jahren zusammenlebt.

Von Stefan Klein

Münster - Der Dichter hat Recht. "Hier in Münster gibt's ein Haus," so dichtet er, "das sieht wie jedes and're aus." In der Tat: Nichts, was an dem Haus Nummer 18 in der Dodostraße besonders wäre. Rot verklinkerte Fassade, vier Fenster im ersten Stock, vier Fenster im zweiten Stock und oben sechs Mansardenfenster.

"Solange ich noch kann, mache ich alles alleine" - Hedwig Mönke, Bewohnerin des Hauses in der Dodostraße Nr. 18. (Foto: Foto: Foto: Stefan Klein)

So ähnlich sehen sie fast alle aus in der Straße, nur etwas ist anders, und das ist direkt ein bisschen abschreckend. Kinder machen einen Bogen um so ein Haus, dessen Visitenkarte ein Schild ist, auf dem "Erd- Feuer- und Seebestattungen" steht-jedenfalls, wenn sie wissen, was mit Erd-, Feuer- und Seebestattungen gemeint ist.

Früher hat der alte Evers, der Hausbesitzer, die Särge noch selber gezimmert, und Frau Tiedemanns Tochter hat neulich erst gesagt: "Oh Mutti, das war ja so furchtbar, der Sargladen da unten." Heute ist das alles sehr viel diskreter. Lilafarbenes Rollo, und der burgunderrote Leichenwagen hinten im Hof.

Ein Haus mit einem Beerdigungsinstitut also, aber das ist nicht der Grund, warum der Dichter gleich in der dritten Zeile auf eine "Besonderheit" zu sprechen kommt. Jawohl, eine Besonderheit. Es ist nicht der Sektkorken, der bei Frau Mönke von der Wohnzimmerlampe baumelt. Auch nicht die alte, schwere Türklinke in der Form einer Seejungfrau, die mal zur Ausstattung des Berliner Stadtschlosses gehörte und heute bei Frau Tiedemann im Regal liegt.

Alles Besonderheiten, keine Frage, aber der Dichter meint etwas anderes:

"Hier wohnen seit geraumer Zeit alles noch die gleichen Leut! Teils in dritter Gen'ration wohnen sechs Parteien schon fünfzig Jahre froh beisammen ohne nennenswerte Schrammen."

Herr Gepp, der Bestattungsunternehmer aus dem Erdgeschoss, hat das gereimt, und die Verse fanden sogar ihren Weg in die Lokalzeitung, denn was sie beschreiben, war ein Ereignis: Ein goldenes Jubiläum.

In der Dodostraße 18 haben sie das unten im Hof groß gefeiert mit Wurst- und Eiersalat, mit Rippchen und Steaks, denn wo gibt es das schon, dass sich eine Mietergemeinschaft ein halbes Jahrhundert hält?

Von all den Familien, die 1954 hier einzogen, ist jeweils noch einer übrig: Frau Nowack und Frau Tiedemann im ersten Stock, Frau Mönke im zweiten, und oben in der Mansarde die Frau Schwabe und daneben der Herr Frische mit seiner Familie.

Arnold Frische war 1954 noch ein Säugling, als er mit seinen Eltern ins Haus kam. Die anderen waren schon erwachsen, und zusammen mit dem Haus sind sie nun alt geworden, nur dass sich so ein Haus doch ein bisschen leichter tut mit dem Altern. Es braucht ja nur dazustehen, Frau Tiedemann aber muss einkaufen gehen mit ihren verschlissenen Kniegelenken.

An einen Aufzug war ja nicht zu denken so bald nach dem Krieg, und von der zweiten Etage sind es immerhin 40 Stufen bis nach unten. Frau Mönke hat sie gezählt. Auch die zum Dachboden, wo sie die Wäsche aufhängt. 32 sind es.

Flotte Freundin Maja

Hedwig Mönke ist 90 Jahre alt. Der Geburtstag ist noch nicht lange her, und den hat sie noch mal groß gefeiert. Aus Amerika kam eine Tochter, aus Afrika eine Enkelin, und aus dem Rathaus ein Blumengesteck und ein Brief vom Oberbürgermeister. Überhaupt hat sie ja immer viel gefeiert und es gerne lustig gehabt in ihrem Leben. Der Krieg war schrecklich und die Flucht aus Westpreußen, aber dann: Karneval, Schützenfest, Rollschuhclub, Radtouren, Schwimmen bei Onkel Jupp, dem Bademeister, es war immer was los.

Gingen die Männer kegeln, gründeten die Frauen eben ihren eigenen Kegelclub. Hedwig Mönke immer mit dabei und natürlich auch Maja, ihre flotte Freundin. Die trug tief ausgeschnittene Blusen und fuhr einen Karman Ghia. So war das, und in der Dodostraße machten es sich die Mönkes gemütlich mit Chippendale-Möbeln und Purzel, dem Dackel. Wochentags kam das blaue Geschirr auf den Tisch und sonntags das mit den rosafarbenen Blümchen, und Peter, der Wellensittich krakeelte munter: "Peter Mönke, Dodostraße 18, Küsschen, Küsschen."

Die Wohnung ist geblieben, aber alles andere ist nur mehr Erinnerung. 1989 starb ihr Mann. Es gibt keinen Wellensittich mehr und keinen Hund. Maja hat Alzheimer und lebt in einem Pflegeheim und erkennt ihre Schulfreundin Hedwig nicht mehr. Manchmal geht Frau Mönke sie besuchen. Dann nimmt sie eine Zitronenrolle mit, weil Maja die immer so gerne mochte.

Frau Mönke muss sie ihr häppchenweise in den Mund schieben. An solchen Tagen kann es passieren, dass sie bedrückt ist und darüber nachdenkt, wie es mit ihr weitergeht. Es könnte mir ja mal was passieren, sagen alte Leute häufig, und Hedwig Mönke sagt es auch. Ob sie dann ebenfalls in ein Heim müsste?

Ein Blick längs durchs Wohnzimmer, vom grünen Sofa bis zur Vitrine gegenüber: "All die schönen Sachen, die ich vermissen würde." Solche trüben Gedanken, aber dagegen weiß die alte Dame ein Mittel. Sie stellt sich vor den Spiegel und schimpft sich aus: "Dir geht's doch gut, was willst du eigentlich?"

Im hellen Outfit trübe Gedanken vertreiben

Und wenn das nicht hilft? Dann zieht sie sich was Schönes an, was Helles, was Sportliches, steckt ein "Reader's Digest" ein und macht sich auf in die Stadt in ein Café. Sie nimmt den Bus der Linie 10 und freut sich, dass die jungen Leute so höflich und zuvorkommend sind und ihren Platz anbieten.

Doch wenn alles stimmt, was man derzeit so lesen kann, zum Beispiel in Frank Schirrmachers "Methusalem-Komplott", dann wird es nicht mehr lange so zivil zugehen. Die "große Mobilmachung" für den "Krieg der Generationen" hat nämlich begonnen. Die Jungen marschieren auf, bis zu den Zähnen bewaffnet mit herabsetzenden Vokabeln zur Diffamierung der immer länger lebenden und deshalb immer zahlreicher werdenden Alten-vergesslich, senil, langsam, hässlich, engstirnig, konservativ, egoistisch, pessimistisch. Dabei geht es eigentlich um etwas Phantastisches.

Darum nämlich, dass die zeitliche Grenze für das menschliche Leben immer offener zu werden, die Lebenserwartung von Europäern und Amerikanern ständig zu wachsen scheint. Einst galt es als ein langes Leben, wenn Schwedinnen 45 Jahre alt wurden, heute schaffen Japanerinnen im Schnitt fast das Doppelte: 85 Jahre.

Schirrmacher schreibt vom "biologischen Triumph unserer Generation" und zitiert den amerikanischen Kulturkritiker Theodore Roszak, der die gewonnenen Jahre eine "kulturelle und spirituelle Ressource" nennt, dem Tod abgerungen, "wie die Holländer fruchtbares Land dem öden Meer entrissen haben". So mag man es sehen: alt werden als zivilisatorischer Gewinn-aber sehen es auch die Alten so?

Anna-Liese Tiedemann wohnt eine Etage unter Frau Mönke. Sie ist zwei Jahre jünger, aber was heißt das schon, wenn man hohen Blutdruck, grauen Star, ruinierte Knie und Arthrose in den Fingern hat? Manchmal könnte sie "schreien, so weh tut das". Nicht, dass es nicht auch Schönes gäbe. "Die Schritte im Haus, die man alle schon kennt," sagt sie, "das ist so wunderbar vertraut."

Umgekehrt gilt das natürlich auch. Wegen ihrer Knieprobleme hat Frau Tiedemann einen etwas schwerfälligen Gang, "ich plumpse immer so, und wenn ich die Treppe runterkomme, weiß Herr Gepp, dass ich es bin." Akustische Spuren in einem ansonsten sehr stillen Haus, das sich an seine Bewohner längst gewöhnt hat-auch an deren Rituale. Zum Beispiel morgens, wenn die Zeitung kommt. Herr Gepp klemmt die Blätter ins Treppengeländer zum ersten Stock, damit Frau Tiedemann nicht runter muss zur Haustür.

Frau Tiedemann nimmt sich eine, und die anderen beiden klemmt sie ins Geländer zum zweiten Stock, als kleinen Service für Frau Mönke und Frau Schwabe. Manchmal freilich muss gar nicht geklemmt werden. Das ist an den Tagen, wenn Herr Frische frühmorgens unterwegs ist. Dann macht er den Verteiler, und alle finden ihre Zeitung auf der Fußmatte vor.

Frau Tiedemann erzählt davon und sagt stolz: "So ist die Hausgemeinschaft." Herr Gepp, der Bestattungsunternehmer, sagt: "Man hilft sich, die Hilfsbereitschaft ist durchgehend da, aber man gluckt nicht aufeinander." Seine Rolle? "So 'ne Art Heimleiter." Jedenfalls hat er ein Auge auf die alten Damen, ist zur Stelle, wenn sie mit vollen Taschen vom Einkaufen zurückkommen oder wenn irgendetwas nicht so recht koscher ist-so wie einmal, als es Frau Mönke nicht gut ging. Da hatte sie den Wasserkessel aufgesetzt und war darüber eingeschlafen.

Der Kessel pfiff und pfiff, bis ins Erdgeschoss konnte man das hören, und Herr Gepp hörte es. Erst schellte er bei Frau Mönke, schellte Brand, wie sie im Münsterland sagen, aber auch das hörte sie nicht, und da hat er dann aufgesperrt, weil ihm die Sache nicht geheuer war. Er hat ja einen Schlüssel zur Wohnung, und Frau Mönke lässt den ihren innen nie stecken, sondern hängt ihn immer über die Klinke. Für solche Fälle.

Oder als Frau Tiedemann ohnmächtig wurde: Auch da hat sich Herr Gepp gekümmert und den Arzt gerufen. Aber er kann natürlich nicht immer da sein. Im Juli war er es nicht. Da war Frau Tiedemann mit dem Rollator, ihrem "Wägelchen", vom Einkaufen zurückgekommen. Sie war schon in der Dodostraße, gar nicht mehr weit vom Haus. An einem Bordstein geriet das Wägelchen außer Kontrolle und Frau Tiedemann ins Straucheln. Das Wägelchen fiel um, Frau Tiedemann fiel um, die Einkäufe ergossen sich auf die Straße, das Glas mit den Gurken schlitterte davon.

Aber es blieb heil. Ein Passant hat alles eingesammelt, hat den Wagen aufgehoben und Frau Tiedemann, und am Ende waren der Schrecken und ein geschwollenes Knie. Herr Gepp sagt, er dürfe gar nicht daran denken, was alles passieren könnte-"aber gottseidank passiert wenig."

"Ortsübliche" Beerdigung

Vermutlich sagt er das so, weil der Tod ja Alltag für ihn ist. Das stille Haus war nicht immer so still. Früher waren da Kinder, aber dann gingen die aus dem Haus, und dann starben die Männer. Herr Gepp hat sie alle beerdigt. Wer sonst. Auch die Witwen wird er eines Tages beerdigen.

Einerseits ist er direkt ein bisschen stolz auf sie: "Bewirtschaften sich alle selbstständig, keine bekommt Essen auf Rädern." Andererseits aber hat er Vorsorgeverträge mit ihnen abgeschlossen. Naja, Vertrag ist ein großes Wort, es ist mehr eine Vereinbarung, und Herr Gepp nimmt auch kein Geld dafür. Es geht vor allem darum, dass er alle Papiere hat, die man braucht für die Ausstellung der Sterbeurkunde und fürs Abmelden der Rente-und was für eine Beerdigung es sein soll. Herr Gepp ist da ganz offen; will einer ein Ave Maria, dann bekommt er ein Ave Maria, aber meistens läuft es doch auf eine "ortsübliche" Beerdigung hinaus. Und geklärt werden muss natürlich auch die Bezahlung. Sperrvermerk im Sparbuch oder Sterbegeld-Versicherung, Herr Gepp weiß in diesen Dingen sehr gut Rat, und die alten Damen, sagt er, seien "einfach beruhigter, wenn das alles geregelt ist".

Frau Tiedemann bestimmt. Sie schläft schlecht, und das liege daran, sagt sie, "dass mein Gehirn zu viel arbeitet". Vielleicht sind da einfach zu viele Dinge, an die sie dauernd denken muss. An den schweren Tod ihres Mannes vor drei Jahren. An den Sohn, der immer nur am Computer sitzt und, wie sie findet, schlecht aussieht. Und an die Enkel, für die sie einen großen Ehrgeiz hat, nämlich dass sie die englische Sprache gut beherrschen, denn "Englisch wird doch immer wichtiger für die Zukunft".

So denkt sie und ist ein bisschen traurig, dass sie nicht mit dem Computer umgehen und keine E-mails empfangen kann-wo doch kaum mehr Briefe geschrieben werden. Frau Tiedemann empfindet das als Verlust, aber dann schaut sie sich im Wohnzimmer um und sagt: "Ich könnte ihn ja auch gar nicht stellen, den Computer." Improvisiert wird nur zu besonderen Anlässen. Bei ihrem 80. Geburtstag wurde der Tisch ausgezogen, und die Kinder brachten Beistelltische mit.

Vier Kinder hat Frau Tiedemann, neun Enkel und sieben Urenkel-aber keiner von denen lebt in Münster. Eine Tochter ist in Wetzlar, die hat Frau Tiedemann öfter mal besucht, aber jetzt gibt es keinen Direktzug mehr dorthin, "und Umsteigen trau' ich mir nicht mehr zu". Weihnachten sollte sie eigentlich zu ihrem ältesten Sohn nach Oldenburg, doch sie hat abgesagt, denn man hätte "mich ja mit dem Auto holen müssen, und man weiß nicht, wie das Wetter ist". Sie sei aber ganz gerne allein, "ich weiß ja, dass alle an mich denken."

Also, Frau Tiedemann, ist es schön, alt zu werden? "Mein Gott," ruft sie da, "was 'ne Frage!" Sie hat noch eine Kindergartenfreundin in Kiel, man schreibt sich, telefoniert auch, aber ihre letzte Freundin in Münster ist gerade gestorben. Jetzt hat sie nur noch die Frauenhilfe in der Kirchgemeinde.

Schön? Frau Tiedemann sagt: "Die Schmerzen werden immer mehr, man wird immer lahmer, andererseits ist es schön, dass alle Kinder da sind und wir uns gut verstehen." Sie sei dankbar, "dass der Kopf noch klar ist", aber so alt wie ihre Großmutter, 97, möchte Frau Tiedemann nicht werden, denn sie mag ihren Kindern keine Last sein: "Die denken immer: wir müssen zu Mutti fahren, wir müssen uns um sie kümmern, das bedrückt mich."

Ist es schön, alt zu werden, Frau Mönke? Sie sagt: Kommt darauf an, was man macht aus seinem Alter. Sie macht ziemlich viel daraus, denn sie hat das Glück, mit 90 Jahren noch bemerkenswert fit zu sein. Kleine Gebrechen hier und da, nichts wirklich Ernstes. Krankenhäuser kennt sie nur von der Geburt ihrer beiden Töchter. Frau Tiedemann sagt bewundernd: "Frau Mönke ist die Gesündeste im Haus, sie wehrt sich auch gegen den Krückstock, fabelhaft." Keinen Stock und keine Haushaltshilfe: "Solange ich noch kann, mach' ich alles alleine." Jeden Tag ein Gläschen Sherry, jeden Morgen Blumenpflege, und wer gestorben ist, sagt ihr die Zeitung.

Ein geordnetes Leben, nur dumm, dass die altgewohnte Bäckerei zugemacht hat. Da musste Frau Mönke nur anrufen, und wenn sie dann hinkam, lag alles schon bereit-der Butterkuchen und das Schlesierbrot. In den Supermärkten ist es anders: "Mein' Sie, die sagen guten Tag?" Frau Mönke liest gerne, zuletzt hat die Großmutter einer in Kenia lebenden Enkelin "Nirgendwo in Afrika" von Stefanie Zweig gelesen.

Wie es der Zufall wollte, wurde genau zu der Zeit bei Günther Jauch nach der Autorin dieses Buches gefragt, und da saß Frau Mönke vor dem Fernseher und rief: "Die Zweig! Die Zweig!" Aber sie ist keine regelmäßige Fernseherin, kann sie gar nicht sein, denn da ist Mallorca vor. Dreimal im Jahr fliegt sie auf die Insel, und wenn sie jemand darauf anspricht, im Haus oder anderswo, "schon wieder nach Mallorca, Frau Mönke", antwortet sie immer mit dem gleichen Satz: "Ja, ich darf das."

Mit der Clique auf Mallorca

Das soll heißen: Ich habe anständig gelebt, habe meinen Mann gepflegt, jetzt leiste ich mir das. Es ist immer dasselbe Hotel, immer dasselbe Zimmer mit Blick aufs Meer, und das schon seit vielen Jahren. Irgendwie gehört Frau Mönke schon zum Hotel dazu, und sie will, sagt sie, auch noch ein bisschen Spanisch lernen, denn "die freuen sich doch immer so, wenn man ein paar Brocken kann".

Ostern und Weihnachten fährt sie, und meistens auch noch im Oktober, weil es schon zur Tradition für sie geworden ist, ihren Geburtstag auf Mallorca zu feiern, "mit meiner Clique", wie sie sagt. Es birgt also nicht nur Abschied und Tod, dieses stille Haus in der Münsteraner Dodostraße, sondern auch einen Hauch von Lebensfreude, eine Ahnung von "spiritueller Ressource", und dabei könnte man es belassen nach diesem Jubiläumsjahr, wenn es nicht noch zwei Dinge zu erklären gäbe-den Sektkorken an der Wohnzimmerlampe und die Türklinke in Gestalt einer Seejungfrau.

Die Seejungfrau ist Frau Tiedemanns Begleiterin, und eine Erinnerung an ihren Mann ist sie auch. Man muss sich das so vorstellen: Frau Tiedemann liegt auf dem Sofa, wie sie das häufig tut, Kissen im Rücken, und löst Rätsel der Freizeit Revue. Sie ist gut im Rätsellösen. Sie hat schon mal Suppentassen gewonnen, ein Paket voll mit Schweizer Käse, und das Größte war ein Schnellkochtopf.

Sie liegt also da, und der Augenblick, da sie sich unter größtmöglicher Schonung ihrer Knie vom Sofa herunterwälzen muss, ist noch fern-und schräg gegenüber, neben der Steinsammlung im Regal, liegt die Seejungfrau. Die Steine hat ihr Mann gesammelt, und die Meerjungfrau hat er gerettet, bevor das Berliner Stadtschloss von der DDR gesprengt wurde. Er war ja in der Denkmalpflege tätig. Ein massives Ding aus Messing, abgewetzt von Tausenden von Händen, eine Türklinke halt. In Wahrheit aber eine stumme Freundin.

Auch der Sektkorken ist ein Stück Vergangenheit. Vor fünf Jahren war Frau Mönke zu ihrem Geburtstag einmal nicht in Mallorca, sondern in Amerika bei ihrer jüngeren Tochter. Auch da ist sie schon oft gewesen. "Nette Menschen, take it easy, fertig"-sie mag Amerika, und als sie nach ihrem 85. Geburtstag von dort zurückkam, da hat sie-zur Erinnerung und weil sie nun mal gerne feiert -den Korken mitgebracht und an ihre Lampe gehängt. Ortsüblich ist das wohl nicht, aber Peter hätte es vermutlich gebilligt und gerufen, was er immer rief: "Küsschen, Küsschen."

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