Wohnblöcke:Lob der Hausordnung

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Wo Menschen zusammenleben, kann viel passieren. Manches sollte geregelt werden, anderes besser nicht. Über Verbote und Bevormundung im Wandel der Zeiten.

Von Oliver Herwig

Früher galt sie noch etwas: die Hausordnung. Für manche Ordnungsfanatiker schien sie womöglich als kleines BGB, ein Bürgerliches Gesetzbuch für Flur, Keller, Hof und Dachboden. Wäsche in der Waschküche waschen und auf dem Dachboden aufhängen, Teppiche im Hof ausklopfen oder dort gar Fußball spielen: Alles Tätigkeiten, die haarklein geregelt waren und die es kaum noch gibt, weil wir uns aus dem Weg gehen, die Wäsche liefern lassen und die Kids zum Sport fahren. Kontakte reißen ab, Berührungspunkte verlagern sich.

Trotzdem gibt es Klassiker, die Menschen garantiert zur Weißglut bringen: Grillen auf dem Nachbarbalkon (wenn man selbst nicht eingeladen ist), Klaviermusik (wenn schwierige Passagen geübt werden), Zigarettenqualm (wenn man gerade mal durchlüften will) und neuerdings auch Wlan-Empfangsstörungen (weil der neue Nachbar plötzlich den gleichen Kanal nutzt wie man selbst). Was tun? Zum Telefon greifen und mal für Ordnung sorgen?

Das scheitert oft daran, dass man zwar die Namen der Nachbarn noch so halbwegs über die Lippen kriegt, aber garantiert keine Telefonnummer zur Hand hat (und wohl auch keiner mehr in Telefonbüchern online wie offline zu finden ist). Einen bösen Brief schreiben und an die Haustüre kleben wie der Paketbote? Oder doch aus dem Sessel aufstehen und spontan klingeln, eine genau memorierte Botschaft ablassen und dann triumphierend auf dem Absatz kehrtmachen? Gut ist, wenn man plötzlich selbst losprustet über seinen kleinkarierten Ordnungswillen oder spontan zur Party nebenan reingebeten wird. Ein Augenzwinkern reicht oft schon, und der Ärger fällt in sich zusammenfallen.

Natürlich reden Nachbarn miteinander, und die wenigsten klemmen sich die Hausordnung unter den Arm, wenn es doch mal Streit gibt. Wahrscheinlich kennt sie sowieso keiner. Das zeigt, wie entspannt unser Umgang mit Regeln geworden ist. Ein Blick in Hausordnungen gleicht einer Zeitreise. Sie bilden Gesellschaft ab und ihre Wertvorstellungen. Was das Papier regelte - oder zumindest in Regeln fassen wollte - war der Mikrokosmos Hausgemeinschaft. Wenn dort etwa - wie in einer Leipziger Hausordnung von 1911 - festgelegt war, Treppen "stets sauber und reinlich zu halten, täglich vor 10 Uhr vormittags zu kehren und mindestens jeden Mittwoch und Sonnabend abends zu scheuern", klingt das inzwischen nach einem Witz über die Kehrwoche im Ländle. Ein Blick auf die Nebenkostenabrechnung zeigt dafür, was für Services wir in Anspruch nehmen, ohne groß darüber nachzudenken. Die Treppen putzen Profis, und Blätter vor dem Haus werden alle zwei Wochen von Männern mit Hochleistungslaubbläsern weggepustet.

Die gesetzlich geschützte Mittagsruhe ist abgeschafft. Was bleibt, ist die Nachtruhe

Das Verbot von "Feuer und offenem Licht" an Garagentoren und der Hinweis, in die Aschengrube dürfe nur Asche und in die Kehrichtgrube nur Kehricht geschüttet werden, katapultiert einen in Zeiten zurück, als Kohle- und Ölöfen noch High-End waren und Automobile absoluter Luxus. Zentralheizung und Leasing-Vertrag haben auch das erledigt. Überhaupt hat sich so einiges getan. War früher das Teppichklopfen oder das Arbeiten am Sonntag verboten, geht es heute eher um Kinderwägen oder Fahrräder im Treppenhaus.

Werfen wir mal einen Blick in die Muster-Hausordnung des Deutschen Mieterbundes DMB. Schon die Abschnitte Lärm, Kinder, Sicherheit, Reinigung, Lüften, Fahrzeuge und Haustiere klingen wie sorgsam markierte Krisengebiete des Miteinanders. Beispielsweise Kinder. Da heißt es, dass ihren "Spielbedürfnissen in angemessener Weise" Rechnung zu tragen sei. Dann folgt der Passus: "Kinder dürfen auf dem Hof und der zum Haus gehörenden Wiese spielen, Zelte und Planschbecken aufstellen, soweit dies nicht zu unzumutbarer Belästigung für die Mitmieter oder Schädigung der Anlage führt." Man ahnt schon, was dahintersteht: Ärger um Dezibelwerte. Eigenartig, dass Straßenlärm oft achselzuckend hingenommen wird, Kinder im Haus aber so richtig stören. Auch das ändert sich - und zwar sowohl unser Umgang mit Menschen als auch mit Dingen. Das Automobil verliert seinen absoluten Sonderstatus. Und Kinder werden oft derart mit extracurricularen Aktivitäten überschüttet, dass sie gar keine Zeit mehr dazu haben, einfach runter zu gehen und Fußball zu spielen.

Wie fremd wirkt doch die historische Hausordnung: "Kindern und Dienstboten ist der Aufenthalt in den Hausfluren und auf den Treppen verboten und es hat sich daselbst niemand unnötiger Weise aufzuhalten." Regeln über Regeln. Wie aus einem Exerzierkommando, das noch den letzten Winkel bürgerlichen Lebens mit militärischer Strenge fasst. "Das Zuwerfen von Türen ist zu vermeiden, die Riegel und Bänder sind öfters einzuölen", heißt es dort weiter. Und: "Lärm im Grundstück ist nicht gestattet und um die nächtliche Ruhe der Hausbewohner nicht zu stören, ist von abends 10 Uhr an jede geräuschvolle Beschäftigung zu vermeiden." Wer in einem Nachkriegshaus wohnt, muss dabei schmunzeln. Im Grunde hört jeder alles, aber niemand beschwert sich, weil alle wissen, dass es jeden trifft. Glück? Vielleicht. Oder eben eine gute Hausgemeinschaft.

Und doch gibt es ein paar Dinge, die durchaus übernehmenswert zu sein scheinen in einer Welt, die sich ortlos und zeitlos gibt, in der aber ganz konkrete Menschen in echten Häusern wohnen. Es gibt nämlich Tage, an denen man sich durchaus nach einer Mittagsruhe sehnt, vielleicht sogar, um tatsächlich mal die Füße hochzulegen - und, wer weiß - selig einzuschlummern. Oder vielmehr nach einem Powernap wieder energetisch durchzustarten.

Die Bewohner nutzen heute mehr Fläche, fahren im Lift direkt in die Tiefgarage, gehen auf Abstand

Die Muster-Hausordnung hält es vornehm: "Das Spielen von Instrumenten ist während der Mittagsruhe (13 bis 15 Uhr) und zwischen 19 und 8 Uhr grundsätzlich untersagt", heißt es da. Gemeint sind damit: Klavier, Schlagzeug und Orgel, die immer wieder zu Unfrieden führen, nicht aber Fernseher, Videospiele und HiFi-Anlagen. Die gesetzlich geschützte Mittagsruhe jedenfalls ist abgeschafft, was bleibt, ist die Nachtruhe. Fast schon tröstlich klingt die Kann-Formulierung: "Bei Feiern aus besonderem Anlass sollten alle Mitbewohner rechtzeitig informiert werden." Klingt so, als sollte man statt Geburtstagen lieber öfter spontan feiern, am besten mit der ganzen Nachbarschaft. Oder gleich gemeinsam zum Public Viewing in die Kneipe ums Eck ziehen.

Hausordnungen sollen das Zusammenleben in einem Mehrfamilienhaus ordnen, indem sie allgemeine Spielregeln fürs Miteinander ausgeben. Es geht immer um Kompromisse. Und um gegenseitige Rücksichtnahme. Wo Menschen zusammenleben, kann eben einiges passieren. Manches sollte dabei geregelt werden, vieles kann offenbleiben. Das ist wohl der tiefere Sinn jeder Hausgemeinschaft: möglichst viel Freiraum für die Menschen zu eröffnen, die kleinen Dinge des Alltags zusammen zu klären und Probleme zu lösen, ohne auf Kleingedrucktes zu pochen und sich schmollend hinter der Wohnungstür zurückzuziehen.

Aber die enge Nachbarschaft, der Ratsch auf der Treppenstufe, die Begegnung am Briefkasten oder Hauseingang - all das hat in den vergangenen Jahren abgenommen. Teils verbarrikadieren sich Menschen in den eigenen vier Wänden - Stichwort Cocooning -, teils sind die persönlichen Abstandsflächen zwischen den Menschen einfach größer geworden. Wir nutzen mehr Quadratmeter und fahren im Lift direkt in die Tiefgarage, gehen uns aus dem Weg und finden uns im Netz wieder. Konflikte verlagern sich, und manche sehnen sich wieder nach mehr Regeln. Dazu passt ein Beitrag des Deutschlandfunks von 2016. "Menschenpflichten - eine Hausordnung für alle", hieß es da schön salopp. Das ist ein schöner Ausdruck, dafür, dass wir alle im Raumschiff Erde leben und dafür doch eine Hausordnung brauchen, die das Grundlegende regelt. Alles andere kriegen wir schon hin.

© SZ vom 14.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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