SZ-Streiflicht:Buntes Treiben auf dem Balkon

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Die SZ-Streiflicht-Autoren nehmen Stellung zum Balkonkasten-Urteil.

Wenn Dichter schon mal den Mond erwarten! Annette von Droste-Hülshoff tat dies einmal, und was dabei herauskam, war eins der größten Balkongedichte der deutschen Lyrik. "Hoch über mir, gleich trübem Eiskristalle", schrieb sie, "zerschmolzen schwamm des Firmamentes Halle", ringsum sah sie "Bergeshäupter", die ihr "ein düstrer Richterkreis" zu sein schienen, und tief unter ihr, in Laub und Gezweig, "summte der Phalänen Reigen". Dem ist auch aus heutiger Sicht wenig hinzuzufügen, sieht man von den prosaischen Einschränkungen ab, dass hoch über uns, also im Stockwerk drüber, die Geranien gegossen werden und der Überschank in unseren Brotkorb rinnt, dass ringsum ein fröhlicher Kreis von Grillfreunden lebt, die ihre je eigenen Bratgerüche in den Hinterhof jagen, und dass unter uns nicht die Phaläne summt, sondern eine Stereoanlage, auf der offenbar nur Flötenmusik hergeht. Das heißt, wer weiß schon, wie eine Phaläne klingt, und vielleicht haben wir mit dem barocken Gedudel ja noch Glück!

Im Wörterbuch steht der Balkon nahe beim Balkan, und man kann behaupten, dass der lexikalische Zufall selten so gut traf wie hier. Der Balkon ist ja weit mehr als nur eine Verlängerung der Wohnung in den angrenzenden Luftraum hinaus, als eine Rumpelkammer oder als ein Ort, wo man im Winter die Essensreste auf Kühlschranktemperatur herunterfährt. Wer ihn so nutzt, missbraucht ihn zwar nicht direkt, verhält sich aber wie einer, der sich ein Klavier kauft, um Großmutters dreistöckige Konfektschale möglichst wirkungsvoll auf- und auszustellen. Auch der Balkon will, dem Klavier ähnlich, gespielt werden. Dazu bedarf es fantasiebegabter Leute, die ihn als Erweiterung des Alltags ins nicht Alltägliche zu deuten wissen, die den kleinen Schritt ins Freie als großen Schritt in die Freiheit genießen - ins Südlichere, Lässigere, Ungeordnetere, auf den wohlverstandenen Balkan eben.

Wo das Geordnete endet, beginnt außer der großen Freiheit auch das unendliche Feld der Nachbarschaftsstreitigkeiten. Auf diesem hat sich das Amtsgericht München eben Verdienste erworben, indem es die Begrünung von Balkonen als "allgemein übliche Nutzung" deklarierte, Blumenkästen und Ähnliches also erlaubte, selbst wo es den anderen Eigentümern nicht gefällt. Anarchisten des Lebens mögen sich innigst angesprochen fühlen durch Urteilspassagen wie die, dass vom Sturm herabgeschleuderte Blumenkästen keinen Nutzungsmissbrauch darstellen, sondern zur Welt gehören wie herunterfallende Dachziegel. Nur Dachziegel? Von wegen. "Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei", dichtete Jacob van Hoddis, dem allerlei schwante. Die Droste- Hülshoff hatte an diesem Punkt der Gefährdung noch den Mond aufgehen lassen: "Und langsam stiegst du, frommes Licht, empor."

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