Stadt-Sanierungen und ihre Folgen:Vertreibung aus dem reichen Herz der Städte

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Wie Sanierungen und der Zuzug wohlhabender Mieter sozial Schwache an den Rand der Metropolen drängen.

Charlotte Frank

Anna Vandenhertz hält sich für eine Sensation. Für eine Frau, der man auf der Straße hinterherschaut. Das erklärt sie mit bitterer Ironie, nach einem tiefen Zug von ihrer Zigarette. "Ist ja auch verständlich", sagt sie, "so alte Leute wie mich sieht man sonst kaum noch im Viertel". Vandenhertz ist 54.

Auferstanden aus (Fast-)Ruinen: Ein saniertes Haus im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg neben einem Gebäude, dessen Fassade bröckelt (Foto: Foto: ddp)

Sie, die Sensation, sitzt in einem Café im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg und fällt auf. Mit ihrem feuerrot gefärbten Haar wirkt sie wie ein Farbklecks zwischen den vielen jungen Menschen um sie herum, die sie nur "die Neuen" nennt.

Die Neuen ordern Latte Macchiato und Bio-Eis, Vandenhertz raucht Kette. Die Neuen tragen Röhrenjeans, Vandenhertz ein Blümchenkleid. Sie wohnt seit fast 40 Jahren im Prenzlauer Berg, doch das Viertel ist ihr so fremd wie nie.

Dabei haben die Neuen doch alles so hübsch gemacht: Nach der Wende wurden fast 80 Prozent der maroden Altbauten saniert. Aus bröckelndem Grau wurden strahlende Stuckfassaden, schnörkelige Balkongitter schmücken die Gründerzeitpaläste wie Kronen - ein Königskind, wer hier lebt: Mit Durchschnittspreisen bis zu 7,77 Euro pro Quadratmeter liegen die Mieten bei Neuvergaben weit über dem Berliner Mittel von 5,96 Euro.

Wo Berlin sexy ist, aber alles andere als arm

Im Prenzlauer Berg, einst bescheidenes Kleine-Leute-Viertel, ist Berlin sexy, aber alles andere als arm. Die Spuren der Vergangenheit sind verwischt - der Stadtteil wurde "gentrifiziert".

Der Begriff "Gentrifizierung" stammt aus der Stadtsoziologie und beschreibt die gesellschaftliche Umstrukturierung von Vierteln: Durch Sanierung, Umbau und den Zuzug einkommensstarker Mieter werden sozial schwache Stadtteile aufgewertet. Was die einen als ansehnliche Revitalisierung loben, kritisieren andere als Verdrängung der ärmeren Bevölkerung aus werdenden Szenevierteln.

Jens Dangschat, Professor für Stadtsoziologie in Wien, hat den Prozess 1987 als Erster beschrieben: Wegen niedriger Mieten werden Bezirke für sogenannte Pioniere attraktiv, meist Studenten und Künstler. Durch ihren Zuzug verändern sie das Milieu, heben den Standard und locken Investoren an. Häuser werden renoviert, es entstehen Läden und Cafés, die Mieten steigen - oft so hoch, dass die Alteingessenen sie nicht mehr bezahlen können. "Sie werden verdrängt", meint Dangschat, "entweder aus ihrem Lebensstil oder, durch die hohen Kosten, aus ihrem Lebensraum."

Abgeladen am Rand der Stadt

Von Vandenhertz' alten Freunden und Nachbarn etwa wohnt keiner mehr im Prenzlauer Berg. "Alle vertrieben", sagt sie, da hätten auch Mieterberatung und Ausgleichswohnungen nicht geholfen. Diese sollten den Sanierungsprozess sozial abfedern, doch das Angebot war zu gering, meinen Kritiker wie Andrej Holm, Stadtsoziologe an der Universität Frankfurt am Main. So folgte dem "quasi-totalen Austausch der Eigentümerstruktur" der Austausch der Anwohner.

Die sind jetzt so künstlich zusammengesetzt wie sonst nur in Neubausiedlungen: 60 Prozent der Menschen sind laut Holm 25 bis 45 Jahre alt, fast doppelt so viele wie im Berliner Durchschnitt. Das ist nur eine von vielen paradoxen Folgen des Einwohnerwandels:

Während die Gesellschaft zusehends altert, werden die Zentren der attraktiven Städte immer jünger - und immer reicher, wie das Beispiel Prenzlauer Berg ebenfalls zeigt: Laut Wohnreport der Immobilienfirma GSW müssen Mieter bis zu 54,4 Prozent ihres Nettoeinkommens verwenden, um dort zu leben. "Die sozial schwache Bevölkerung wurde aus dem Viertel herausgespült", sagt Holm. Der Rand der Gesellschaft, abgeladen am Rand der Stadt.

Auf dem Hein-Köllisch-Platz in Hamburg-St. Pauli stehen Heike und Walter Jung und fürchten genau das. "Man will uns weg haben", sagt Heike Jung, 45 Jahre alt, Hartz-IV-Empfängerin und Mutter von sieben Kindern. Sie wohnt seit ihrer Geburt hier, in vierter Generation schon. Solche wie sie seien "keine Hamburger, sondern St.-Paulianer", sagt sie stolz, und dass man dann alles und jeden im Viertel kenne.

Seit ein paar Jahren aber hat sie Probleme, ihren Stadtteil zu verstehen, so rapide wandelt er sich: Aus Rumpelkammern werden Lofts, aus Kneipen Lounges, aus Nachbarn Fremde. Zuletzt wurde sogar der zentrale Spielbudenplatz privatisiert und in eine GmbH umgewandelt. "St. Pauli wird verhökert", schimpft Jung. Die Veredelung, die im Prenzlauer Berg fast abgeschlossen ist, ist in St. Pauli in vollem Gang.

Ein Luxusviertel im Rotlichtviertel

Das begann ganz klassisch, mit dem Einzug von ein paar Unerschrockenen, die, wie Walter Jung vermutet, das Verruchte am Kiez suchten. "Das war albern, aber zu verkraften", sagt er. Doch dann, 2001, wurde das Gelände der Bavaria-Brauerei verkauft. Binnen sieben Jahren legten Investoren dort 350 Millionen Euro an, bauten Wohnungen, Büros und ein Sternehotel.

Ein Luxusviertel im Rotlichtviertel. "Früher hatten nur die Zuhälter dicke Schlitten, jetzt fährt hier jeder Zweite Mercedes", sagt Walter Jung. Womit er seine Ansicht über "die da" für geklärt hält. Nur eines will ihm nicht einleuchten: "Was wollen die hier, nachdem wir früher nie fein genug waren?"

Seine Frage nur mit der zentralen Lage St. Paulis zu erklären, würde zu kurz greifen. Denn der Druck auf die Innenstädte hat in erster Linie mit der Erosion der traditionellen Familie zu tun. "Wer etwas auf sich hielt, zog bis in die 80er Jahre ins Grüne", sagt Jens Dangschat. Heute hingegen gibt es immer mehr Singles und Kinderlose, die zentral gelegene Wohnungen vorziehen. Zudem sind in vielen Familien beide Eltern berufstätig, lange Arbeitswege sind da eher lästig.

Wo diese Entwicklung im Extremfall hinführen kann, zeigt das Beispiel München, laut Dangschat die am stärksten gentrifizierte Stadt Deutschlands. Dort gibt es innenstadtnah kaum noch einkommensschwache Viertel. Stattdessen droht vielerorts sogar die Verdrängung der Mittelschichten. Viertel wie Haidhausen etwa haben bereits 62 Prozent Singlehaushalte, Paare mit Kindern können sich die Mieten nicht mehr leisten.

Folgen der Hartz-Gesetze

Aber auch Städte wie Hamburg oder Düsseldorf, die eine erfolgreiche industrielle Umstrukturierung hinter sich haben, sind für Aufwertungsprozesse prädestiniert. Verstärkt wird dies noch durch die strengen Höchstmieten der Hartz-IV-Gesetze. Wer sie überschreitet, muss in billigere Lagen umziehen. "Gesetzlich verordnete Schaffung von Brennpunkten" nennt Andrej Holm das. Die politischen Bemühungen der vergangenen 15 Jahre, Städte sozial besser zu durchmischen, werden so konterkariert.

Heike Jung zum Beispiel stehen für ihren Fünf-Personen-Haushalt höchstens 811 Euro Kaltmiete zu. Noch lebt sie mit vier ihrer Kinder zusammen und liegt darunter. Aber bald zieht eine ihrer Töchter aus, dann liegt die Höchstmiete bei 662 Euro. "Keine Ahnung, was dann passiert", sagt Jung nervös, sie hat ja noch nie woanders als in St. Pauli gelebt, allein der Gedanke macht ihr Angst.

"Für sozial schwache Menschen ist ein Umzug oft ein soziales Drama, er nimmt ihnen ihre Netzwerke zur Armutsbewältigung", sagt Andrej Holm. Das seien banale, aber essentielle Arrangements wie das Wissen, wer auf die Kinder aufpasst oder einem mal Geld leiht.

Schnell voranschreitende Verdrängung

Doch die Verdrängung in St. Pauli schreitet schnell voran, das zeigen Daten des Statistischen Landesamtes: Während in ganz Hamburg die Zahl der Hartz-IV-Empfänger im Jahr 2006 um 0,1 Prozentpunkte stieg, sank sie im Rotlichtviertel um 0,5 Punkte. "Und das lag nicht daran, dass plötzlich so viele arme Leute reich wurden. Sondern daran, dass viele Arme umziehen mussten", meint Steffen Jörg vom Stadtteilverein Kölibri. Allein im Jahr 2006 fielen 8000 Sozialwohnungen aus der Preisbindung heraus, aber nur 500 neue entstanden.

Bis sich St. Pauli aber so stark verändert wie etwa der Prenzlauer Berg, wird es wohl dauern. Noch leben hier 18,6 Prozent der Bevölkerung von Hartz IV, 27,9 Prozent haben keinen deutschen Pass. Noch rasen die Gegensätze zwischen Arm und Reich, edel und anrüchig, schick und schmuddelig ungebremst aufeinander zu, und wie es aussieht, wenn sie zusammenprallen, kann man sich zum Beispiel an der Scharfen Ecke ansehen, am südlichen Ende der Davidstraße.

"Zur scharfen Ecke" ist die angeblich älteste Hafenkneipe von St. Pauli, in der es noch Filterkaffee und Doppelkorn gibt und am Samstag Mädchen auf der Theke. Direkt gegenüber liegt das Empire Riverside Hotel, 21 bronzeverkleidete Etagen Prunk - die Straßenseite gehört der anderen Seite. Doch wenn die Sonne scheint, ist auf der Fensterfront des Hotels der Schriftzug der Hafenkneipe zu lesen. Verzerrt zwar und blass und verkehrt herum, und doch steht auf der Luxusfassade plötzlich "Zur scharfen Ecke". Das passt nicht hierher - eine kleine Sensation im Viertel.

© SZ vom 2.7.2008/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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