So wohnt die Welt (6):Klein, aber mein

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In England hat manches Heim in etwa die Grundfläche eines Saunatuchs. Aber, egal: Was zählt, ist ein Stück eigene Scholle.

Wolfgang Koydl

Die Tochter war die erste, die die inneren Zusammenhänge durchschaute. "Ich weiß jetzt", krähte sie schon am zweiten Tag nach der Ankunft im neuen Land, "warum es England heißt: Weil hier alles so schrecklich eng ist."

Häuser in Chelsea, London: Eng aneinander und damit typisch für England. (Foto: Foto: Pixelio)

In der Tat: Großflächig und großzügig geschnitten ist eigentlich kaum etwas im Vereinigten Königreich: nicht die verwinkelten, verstopften Verkehrsadern, nicht die vollgestellten Gänge in den Supermärkten, nicht die kleinkarierten Konventionen und Traditionen.

Eng sind aber vor allem die Häuser, was die Menschen hier jedoch nicht weiter stört. Der Brite legt in erster Linie Wert auf seine eigenen vier Wände. Sie sollten möglichst eine eigene Haustüre zur Straße hin, ein eigenes Dach und ein Fleckchen Erde vorne und hinten besitzen.

Was anderswo platzsparend in turmhohen Mietsilos gestapelt wird, ergießt sich hier in endlos langen Ziegelbächen übers Land. Wer mit Google Earth über Bradford, Birmingham oder Belfast hinwegfliegt, glaubt mit dem Mikroskop auf gewundene Mikrobenketten zu blicken.

"My home is my castle" - der Spruch mag reichlich angejahrt sein, doch stimmen tut er noch immer. Mit einer echten Burg hat das britische Durchschnittshaus zwar nur gemeinsam, dass beide kalt, zugig und feucht sind und dass die sanitären Anlagen eher vom 13. als vom 20. Jahrhundert geprägt sind. Doch was zählt, ist, dass man den Fuß auf ein Stückchen eigene Scholle setzen kann - auch wenn es nicht viel größer ist als ein Fußabstreifer.

Dass dieser Vergleich zumindest nicht schrecklich übertrieben ist, zeigt ein Blick in die Immobilienanzeigen, zumal in London. Vor kurzem gelangte hier, im Nobelviertel Chelsea, ein Kellergelass auf den Markt, das nicht größer war als ein Billardtisch. Der stolze Preis: umgerechnet 250 000 Euro.

Der Markt: außer Rand und Band

Der Immobilienmarkt im Vereinigten Königreich ist seit Jahren außer Rand und Band, und selbst erfahrene Fachleute haben es aufgegeben, ein Ende der unaufhaltsamen Preissteigerungen vorherzusagen.

Der Markt folgt keiner ökonomischen Logik mehr, sondern nur noch einer Richtung: steil nach oben. Konkret hat das zur Folge, dass für junge Leute und Berufsanfänger bereits die erste Sprosse der sogenannten Eigentumsleiter, auf der man im Laufe des Lebens in immer bessere Häuser emporklimmt, angesichts der astronomisch hohen Preise unerreichbar geworden ist.

Denn auch kleine Häuser, mit denen man einst in den Markt einstieg, sind für viele unerschwinglich geworden. Dabei sind viele dieser schmalen, hohen Häuschen in ihrer Gesamtfläche nicht einmal so groß wie eine deutsche Sozialwohnung aus den fünfziger oder sechziger Jahren.

Viel Platz geht für das Treppenhaus verloren, aber das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man auf mehr als einer Etage leben will. Als unser Umzugscontainer vor dem neuen Haus in Kingston stand, da wirkte es, als ob er, hochkant gewuchtet, bis an die Dachkante reichen würde. Selbstverständlich passte dann auch nicht alles, was wir mitgebracht hatten, in die Zimmer.

Letztlich war es freilich unsere eigene Schuld: Es gibt kein schlechtes Wetter, sagt der englische Volksmund, sondern nur falsche Kleidung. Und ebenso gibt es auch keine kleinen Häuser, sondern nur zu großes Mobiliar.

Es würde ja schon helfen, wenn sich britische Hausbesitzer dazu entschließen könnten, die Trennwände zwischen einzelnen Zimmern niederzureißen. Das aber lassen sie wohlweislich bleiben, da sich der Wert der Immobilie nicht nach Quadratmetern, sondern nach der Anzahl der Räume bemisst. Unerheblich ist dabei, ob die Zimmer eher die Größe von Einbauschränken haben, die noch nicht einmal begehbar sind.

Entsprechend wichtig sind angesichts dieser Größenverhältnisse diverse Nebengebäude und -trakte: der Gartenschuppen und die Garage. Das Verhältnis des Briten zum Garten ist ähnlich mythisch wie das des Deutschen zum Wald und des Beduinen zur Wüste.

Mehr Zeit als im Pub

Nirgendwo auf der Welt scheint es mehr Garten-Center, Gartenschauen, Gartensendungen im Fernsehen und - ganz allgemein - Gärtner zu geben. Brite ist, so hat es mitunter den Anschein, wer mit einem grünen Daumen gesegnet ist.

In seinem Garten, auch wenn er meist nicht größer ist als zwei nebeneinander gelegte Badetücher, die sich schmal und wurmartig zwischen den Nachbarzäunen bis hinunter zu einem Bahndamm ziehen, verbringen Engländer mehr Zeit als im Pub.

In diesem Garten thront tempelgleich ein Schuppen, auf englisch "shed" genannt. Er ist freilich mehr als nur ein Aufbewahrungsort für Rechen, Spaten, Schläuche und Gießkannen. Entscheidender ist seine Bedeutung als Rückzugsort und Bastelstube geplagter Familienoberhäupter. Als Großbritannien eher noch als die USA die Weltliga der Erfindungen anführte, da erblickten viele der besten Ideen in einem Shed das Licht der Welt.

Mindestens ebenso wichtig wie der Shed sind die Garagen, wenn man dort auch so gut wie nie ein Auto antrifft. Für einen modernen Mittelklassewagen wären sie viel zu klein, da sie einst für Minis oder andere Zwergmobile maßgeschneidert worden zu sein scheinen.

So erobert man ein ganzes Empire

Sie sind indes unentbehrlich, denn wo sonst könnte man Fahrräder, Koffer, Farbtöpfe oder Sportgerät verwahren. Denn Keller sucht man in Großbritannien vergebens, und die Speicher tragen zu Recht den Namen "crawl space" - ein Raum also, in dem man nur kriechen kann.

Eng mögen die Häuser hier sein, aber eines hat die Wohnkultur Großbritanniens erreicht: Sie hat die Menschen abgehärtet. Denn in England muss man das Haus nicht verlassen, wenn man den Elementen der Natur ausgesetzt sein will.

Durch klapprige Fenster pfeift der Wind, durch offene Kamine kriecht die Kälte, und durch undichte Decken tropft der Regen. Es ist noch gar nicht so lange her, da war es verboten, Badezimmerfenster abzuschließen. Der einzige Ort im Haus, an dem man nackt und nass ist, war eiskalt. Ein perfektes Rezept für Grippen oder Lungenentzündungen; oder die Voraussetzung dafür, ein Empire zu erobern.

© SZ vom 13.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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