So wohnt die Welt (5):Gardine oder nicht Gardine

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Wer wissen will, was den Belgier vom Niederländer unterscheidet, der soll durchs Fenster schauen.

Cornelia Bolesch

Wer wissen will, was den Belgier vom Niederländer unterscheidet, der soll durchs Fenster schauen. Hat er durch sauber geputzte Scheiben einen freien Blick ins Wohnzimmer, wo eine frisch frisierte Oma im Sessel sitzt und Kreuzworträtsel löst, so befindet er sich in Holland.

Hängt dagegen eine graue Gardine einem Bollwerk gleich hinter der Fensterscheibe, dann steht er vor einem belgischen Haus.

Kunststoff-Vorhänge sind der ganze Stolz eines belgischen Vermieters. Sie hängen an allen Fenstern. Sie bleiben in der Wohnung, selbst wenn der Mieter längst ausgezogen ist. Im Mietvertrag steht, man solle die Vorhänge gut behandeln und regelmäßig in einer "Spezialreinigung" waschen, damit sie weiß und duftig bleiben. Die meisten Mieter scheinen diese Aufforderung jedoch zu ignorieren - hinter vielen Fenstern sieht es eher grau und gruftig aus.

Aber Gardinen gehören zur belgischen Wohnkultur wie die Fritten zur belgischen Mahlzeit. Sie hängen sogar in Häusern, die längst zum Abbruch freigegeben wurden. Ist die Gardine ein Symbol für das Bedürfnis der Belgier, sich abzuschotten? Der Schriftsteller Geert van Istendael jedenfalls ist überzeugt, dass sich das wahre Leben seiner Landsleute im Verborgenen abspielt. Wie alle einstmals "besetzten Völker" so hätten auch die Belgier den Wunsch, "unsichtbar" zu sein, schreibt er.

Schein und Sein

Als potentieller Mieter einer Wohnung stößt man auf eine weitere Spielart des belgischen Lebensgefühls: den Unterschied zwischen Schein und Sein. Auch die Übernahme einer normalen Wohnung wird mitunter mit einem Aufwand zelebriert, als zöge man in ein Schloss. Die Prozedur nennt sich "Etat des Lieux".

Ein unabhängiger Experte - meistens vom Vermieter benannt und vom Mieter bezahlt - streift mehrere Stunden durch die noch leeren Zimmer, steht manchmal lange in völlig unscheinbaren Ecken und macht sich ausgiebig Notizen. Nach einigen Tagen wird dem Mieter ein mit Fotos bestücktes Heft ausgehändigt. Dem Dokument kann er zum Beispiel entnehmen, dass die Farbe der Wände in seiner Garderobe "cremefarben" ist und der fabelhafte Zustand des Parkettfußbodens im Wohnzimmer nur geringfügig von einem "kleinen schwarzen Fleck" beeinträchtigt wird.

Der Etat des Lieux soll den Nutzer der Wohnung davor bewahren, einige Jahre später beim Auszug für Schäden aufkommen zu müssen, die er bereits vorgefunden hat. Er soll aber natürlich auch dem Vermieter Beweise in die Hand geben, wenn der Mieter die Wohnung im Zustand der Verwahrlosung räumt. Leider kann es passieren, dass sich die Schwachstellen einer Wohnung erst bemerkbar machen, nachdem der Experte sein Dokument abgeliefert hat. So sollte man in belgischen Wohnungen vor allem an die Funktionskraft von Schlössern und Schlüsseln keine allzu großen Erwartungen richten.

Auch wenn das nach diesen Bemerkungen vielleicht überraschend klingt: Es gibt viele Gründe, sich als Mieter in Belgien wohl zu fühlen. Selbst in der Hauptstadt Brüssel, in der Beamte, Lobbyisten und Diplomaten die Immobilienpreise nach oben drücken, ist das Angebot an erschwinglichen Wohnungen immer noch groß. Ältere Häuser mit Kamin und Garten werden für 1500 Euro vermietet. Ordentliche Wohnungen gibt es schon für die Hälfte.

Die Suche nach einem passenden Gehäuse ist in Brüssel so bequem, wie kaum in einer anderen europäischen Großstadt. Man geht einfach spazieren. Denn die meisten Wohnungen oder Häuser, die zur Vermietung anstehen, sind mit der Information "A louer" (französische Version) oder "Te huur" (niederländische Version) und einer Telefonnummer zur Kontaktaufnahme beschildert. Da kann man schon von außen die erste wichtige Auswahl treffen. Auch wer einen Makler beauftragt, muss keine besondere Gebühr bezahlen. Bei erfolgreicher Vermittlung kassiert der Makler die erste Monatsmiete, arbeitet also auf Kosten des Vermieters. Und bei einem langjährigen Mietvertrag wird die Miete alljährlich nur um die Inflationsrate erhöht.

Eine Qual bleibt dem Mieter dennoch nicht erspart. Denn er muss sich in belgischen Städten im Prinzip zwischen zwei Wohnformen entscheiden: dem Maison de Maitre beziehungsweise Herenhuis und dem Appartement. Für manchen Zugezogenen kommt die Auswahl einer Glaubensfrage gleich, deren Beantwortung fast genauso wichtig ist wie das Unterkommen im "richtigen" Viertel. Doch beide Wohnarten bieten Vor- und Nachteile.

Das Herrenhaus ist ein hohes, häufig sehr schmales und meist aus Backstein gefertigtes Gebäude, das vor allem in Brüssel ganze Straßenzeilen prägt. Die Küche befindet sich manchmal im Keller. Als erstes betritt man den Salon, in dem die Gäste empfangen werden. Die Privaträume liegen abgeschirmt in den höheren Etagen. Man hat einen Garten. Doch der ist manchmal klein und eingemauert. Zugemauert ist häufig leider auch der Kamin im Salon. In manchen dieser hohen Häuser zieht es ganz ordentlich, und auch sonst gibt es für Handwerker immer was zu tun.

Wie bei Guggenheim

Die Appartements in den großen Wohnblocks dagegen sind meist in besserem Zustand. Ältere Anlagen bieten auch jede Menge Originalität: Sie tragen poetische Namen wie "Perle von Solbosch", beherbergen Wohnungen labyrinthischen Zuschnitts und leisten sich Skulpturen im Treppenhaus wie bei Guggenheim. Die Nachbarschaft ist ein Vielvölkergemisch. Aus den Wohnungen blickt man häufig in einen begrünten Innenhof. Der größte Vorteil einer solchen Anlage aber ist die Concièrge. Sie hat einen Schlüssel und kümmert sich bei Abwesenheit um Post und Zeitungen. Sie unterrichtet einen über den neuesten Klatsch und leitet erste Hilfe ein, wenn plötzlich ein Wasserrohr bricht.

Ob Herrenhaus oder Appartement - die Möbel ziehen in beiden Fällen durch die Fenster ein. Sessel, Betten und Schränke werden mit Hilfe eines Außenlifts in die neue Wohnung geschafft. Belgische Treppenhäuser haben nämlich die Breite einer Hühnerleiter und sind meistens genauso steil. Auf diesem Weg kann man allenfalls das Besteck transportieren. Die vertraute Begleitmusik eines Umzugs in Deutschland - das Keuchen der Möbelpacker im Treppenhaus - wird man in Belgien nie hören. Hier klettert das gesamte Mobiliar eine Himmelsleiter hinauf, mit jedem Fleck, jeder durchgescheuerten Stelle den Augen der Umwelt preisgegeben. Eigentlich eine seltsame Gewohnheit bei diesem Volk, das doch so gerne im Verborgenen lebt.

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