So wohnt die Welt (4):Unter Leidgenossen

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Listenprinzip, Überwachungskameras, Waschtag, selbst das Umzugsdatum ist mancherorts vorgeschrieben: In der Schweiz wohnt man nach strengen Regeln.

Judith Raupp

Neulich abends hat der Nachbar wieder mal an der Tür geklopft. "Wäschst du gerade?", fragt er. Es klingt wie ein Vorwurf, nicht wie eine Frage. Unwillkürlich stellt sich ein ungutes Gefühl ein, während das Gehirn die auswendiggelernten Verhaltensregeln für die Waschküche auf mögliche Verstöße abklopft. Und tatsächlich meldet das Gedächtnis: Man nimmt die geschleuderte Wäsche des anderen, der die Maschine zuvor benutzt hat, nicht heraus, um sie in dessen Wäschekorb zu legen.

Nein, man wartet, bis der Besitzer seine Unterhosen, Unterhemden und Socken selbst aus der Trommel hievt. Auch wenn der liebe Nachbar stundenlang in der Kneipe um die Ecke sitzt. Fazit: Hier liegt ein klarer Fall eigenmächtigen Ausräumens der Waschmaschine und unerlaubten Einsatzes derselbigen vor.

Dazu muss man wissen, dass sehr viele Schweizer keine eigene Waschmaschine besitzen. Das gilt jedenfalls für die meisten, die zur Miete wohnen. Und das ist in der Stadt Zürich die deutliche Mehrheit der 370.000 Einwohner. Die Waschmaschine für die Allgemeinheit steht in der Regel im Keller.

Eigentlich ist das praktisch: keine durchtränkten Zimmerdecken, wenn Wasser ausläuft, und keine Schlepperei beim Umzug. Die Benimmregeln für die Waschküche sind für Fremde allerdings gewöhnungsbedürftig.

Wer Glück hat, trifft auf lockere Selbstverwaltung: Jeder wäscht, wenn er eine freie Maschine vorfindet. Ausgenommen nach 22 Uhr und an Sonn- und Feiertagen. Da ist Waschen verboten. Strenger ist das Listenprinzip.

Waschwillige müssen sich ein paar Tage im Voraus mit genauer Uhrzeit auf einen Zettel eintragen. Daneben hängen die Vorschriften für die Waschküche. Sollte jemand die Waschmaschine benutzen, ohne sich einzutragen, ist der Hausmeister angehalten, "die Wäsche dem Kehricht zuzuführen". So steht es schwarz auf weiß.

Wer Pech hat, landet in der Waschküchendiktatur, bekommt also einen bestimmten Wochentag und eine bestimmte Zeit für die große Wäsche zugeteilt. Das kann schon mal zur Belastungsprobe für den Geruchssinn werden - zum Beispiel wenn die verschwitzten Trikots des Basketballteams nach einem Spiel von Sonntag bis Freitag im Bad ihren Duft verströmen, nur weil vorher kein Waschrecht besteht. Abgesehen davon ist das "Waschen für Vereine" eigentlich gar nicht erlaubt. Auch das steht in den Regeln. Damit sich alle daran halten, hängen manche Hausverwaltungen sogar Überwachungskameras in den Waschküchen auf. Natürlich nur zum Besten für die Mieter.

Will jemand dem Stress in der Waschküche entfliehen, sollte er zum 1. April oder zum 1. Oktober umziehen. Viele Mietverträge in der Stadt Zürich enthalten diese Daten als offizielle "Zügeltermine". Zügeln meint keinesfalls das Einschränken eigenen Ungestüms, sondern "umziehen". Mieter, die außerterminlich ausziehen, müssen selbst einen Nachfolger suchen und müssen eine Verwaltungsgebühr zahlen, die schnell mal bei 200 Franken (130 Euro) liegt.

Dafür können sie bei den Ausgaben für den Maler sparen. Die Wohnung darf zwar in den seltensten Fälle selbst gestrichen werden. Aber die Fachleute renovieren nur die Wände, die tatsächlich abgenutzt sind. Manchmal bessern sie auch einfach nur ein paar abgenutzte Stellen aus und streichen nicht einmal die ganze Wand. Es bleibt dem Verhandlungsgeschick der Mieter überlassen, wo der Maler Hand anlegen muss. Meistens einigen sich die Parteien friedlich. Denn die Schweizer sind - von der Waschküche einmal abgesehen - ein harmonieliebendes Volk.

Und weil Harmonie auch etwas mit einem guten Essen im trauten Heim zu tun hat, beinhalten die Mietwohnungen in der Schweiz eine komplett ausgestattete Küche. Einbauschränke, Herd, Waschbecken und immer öfter sogar ein Geschirrspüler gehören zur Grundausstattung. Selbst Einzimmerwohnungen haben meistens eine separate Küche mit Fenster oder guter Lüftung. Kochnischen wie in deutschen Einzelappartements sind in der Schweiz eine Seltenheit.

Wer seine persönlichen Modevorstellungen in der Küche ausleben will, ist vermutlich in einer Eigentumswohnung oder im eigenen Haus besser aufgehoben. Allerdings darf dann ein dickes Geldpolster nicht fehlen. Mehr als eine Million Franken sind in Zürich für ein Einfamilienhaus keine Seltenheit. Eine Eigentumswohnung ist für 195 000 Franken zu haben - pro Zimmer allerdings. Schweizer berechnen die Größe der Wohnung nicht in Quadratmetern, sondern in Zimmern. Die Zahl der Quadratmeter steht nicht einmal im Mietvertrag.

In Zürich sind allerdings auch die Mieten teuer. Eine Dreizimmerwohnung in guter Lage kann warm schon mal 2500 Franken pro Monat kosten. Mit viel Glück lässt sich ein Dreizimmerappartement für 1500 Franken finden. Es liegt dann aber garantiert nicht im besten Wohngebiet. Für die offiziellen Besichtigungstermine der billigen Wohnungen ist Geduld gefragt. Die Schlange der wartenden Menschen reicht häufig über mehrere Stockwerke. Billiger Wohnraum ist in Zürich trotz reger Bautätigkeit rar.

Beschweren sollte sich allerdings niemand über die teuren Mieten. Schließlich gibt man das Geld nicht allein für die Wohnung aus, sondern auch für die Unterhaltung in der Waschküche. Und die ist unbezahlbar.

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