Die Weltpresse zur Finanzkrise:"Danke, Amerika!"

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Ist die Finanzkrise die Strafe für die Arroganz der Banker? Ein Zeichen für den Niedergang Amerikas und den Aufstieg Asiens? Ein reinigendes Gewitter? Oder einfach ganz großes Kino? Internationale Pressestimmen im Überblick

Von fünf großen US-Investmentbanken sind nur noch zwei übrig - und die Branche bangt um weitere Finanzgiganten, wie den Versicherer AIG und die Sparkasse Washington Mutual. Die Weltbörsen rauschen in die Tiefe und die internationale Presse fragt sich: Ist die Finanzkrise die Strafe für die Arroganz der Banker? Ein Zeichen für den Niedergang Amerikas und den Aufstieg Asiens? Auslöser für Millionen Arbeitslose in Europa? Ein reinigendes Gewitter? Oder sogar ganz großes Kino? Medienkommentare in Auszügen:

Hiobsbotschaften am laufenden Band: Der ABC-Newsticker am New Yorker Times Square. (Foto: Foto: AP)

The Times (Großbritannien): Der Chef ist schuld

"Wenn man fragt, wer Schuld am Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers ist, hört man zwei Worte als Antwort: Dick Fuld. Herr Fuld war seit 1994 der herrische Chef bei Lehman, der viertgrößten Investmentbank der USA. (...) Herr Fuld war ein dreister Mogul der Wall Street, der seine Kollegen öffentlich niedergemacht hat. Er war gut darin, etwas geradeheraus zu sagen. Aber er war weniger gut im Zuhören. Und letztendlich führte er sich selbst und alle um ihn herum in die Irre, indem er sagte, er und seine Bank hätten die nötigen Maßnahmen getroffen, um dem Sturm auf dem Finanzmarkt zu trotzen."

Neue Zürcher Zeitung (Schweiz): Nur ein reinigendes Gewitter

"Diese eindrückliche Anstrengung staatlicher und privater Stellen scheint den Marktteilnehmern eher Schrecken eingejagt zu haben. Sie empfanden die geballte Ladung offenbar als beängstigenden Donnerschlag. Jedenfalls sanken die Aktienkurse praktisch rund um den Globus, wenn auch in Europa weniger ausgeprägt als in den Vereinigten Staaten. Gewitter bringen aber nicht nur Blitz und Donner, sie reinigen auch die Luft. Die Landschaft präsentiert sich danach in der Regel besonders schön und proper. Das dürfte auch bei diesem Gewitter so sein."

La Tribune ( Frankreich): Strafe für die Arroganten

"Indem die Regierung in Washington am Sonntag brutal die Richtung geändert und einen Dominostein aus dem Spiel weggenommen hat, riskiert sie, dass das ganze System zusammenstürzt. Dies macht die Märkte orientierungslos. Die Pleite einer Bank war vielleicht notwendig,: Es musste gezeigt werden, dass im Kapitalismus der Tollheiten selbst die Größten, selbst die Arrogantesten bestraft werden können. Doch dass die Regierung dies erst tat, nachdem sie andere Methoden versucht hatte, vermittelt ein Gefühl des Zauderns. Wir glaubten an Pragmatismus und entdecken nun Panik. Die Finanzwelt war davon überzeugt, dass es in dem Flugzeug einen Piloten gab. Dass dieser die Krise kannte und (...) wusste, was zu tun sei. Doch dies war ein Irrtum."

Frankfurter Rundschau: Millionen Arbeitslose für Europa

"Es ist ein brandgefährliches Experiment, das die Amerikaner dem Rest der Welt aufzwingen. Aus ideologischen Gründen wollten sie nicht noch einmal eine Bank mit Steuerzahlergeld retten und verstaatlichen. Dass die Folgen viel mehr Geld kosten und zu Verwerfungen führen können, die sich niemand auszumalen getraut hat - dieses Risiko wird billigend in Kauf genommen. Wer leiht heute noch einem amerikanischen Kreditinstitut freiwillig Geld? Den Verantwortlichen in Europa bleibt jetzt nichts anderes übrig, als verbale Beruhigungspillen zu verteilen (...) - und zu hoffen. Aber es sollte niemanden wundern, wenn bald die Notenbanken direkt in die Finanzmärkte eingreifen müssen, etwa um den Dollar zu stützen oder um die Aktienmärkte vor dem Kollaps zu bewahren." (...) Wenn es richtig schlecht läuft, werden die Steuerzahler in Europa, auch Deutschland, Milliarden Euro für die Rettung hiesiger Banken aufbringen müssen, wird sich die Rendite aus Lebensversicherungen und anderen Altersvorsorgeprodukten für die Menschen hierzulande kräftig reduzieren, wird die Krise Europa Millionen Arbeitslose bescheren. Danke, Amerika! Nicht nur dieser neue Höhepunkt in der Finanzmarktkrise, nicht nur dieses unverantwortliche Verhalten der US-Politik sollte die Regierungen Europas Abschied nehmen lassen. Abschied von der Philosophie der Wall Street, jener kleinen Straße in New York, in der der Finanzkapitalismus seinen Ursprung hat."

Westdeutsche Zeitung: Nicht noch mehr Steuergeld für die Spekulanten

"Keinesfalls sollten die Spekulanten für ihr modernes Raubrittertum auch noch belohnt werden. So war es richtig, die Lehman-Bank den Bach runtergehen zu lassen statt schlechten Krediten auch noch gutes Geld der amerikanischen Steuerzahler hinterher zu werfen. Auch für Deutschland ist die verschärfte Finanzkrise keine gute Nachricht. Zwar werden hierzulande kaum weitere Institute zusammenbrechen. Das Wirtschaftswachstum wird aber bei uns geringer als erwartet ausfallen. Ob am Ende auch dem Exportweltmeister eine Rezession droht, ist offen."

Tages-Anzeiger (Schweiz): Ende der globalen Finanzordnung

"Die vor über einem Jahr ausgebrochene Finanzkrise hat (...) eine neue Dimension erreicht: Nach den dramatischen Geschehnissen von gestern wird die globale Finanzordnung, wie sie bis 2007 herrschte, nie mehr wiederkehren. Zu groß sind die tektonischen Verschiebungen in der Bankenwelt, zu zerstörerisch die frei werdenden Kräfte. Dagegen kann auch ein amerikanischer Finanzminister mit der Staatskasse der weltgrößten Volkswirtschaft nichts ausrichten. Diese Einsicht ist bei Henry Paulson noch rechtzeitig gereift. Es war in der Tat höchste Zeit, dass er eine klare Linie gezogen hat."

Tagesspiegel: Märkte können sich nicht selbst regulieren

"Spätestens mit dem Zusammenbruch dieses Schattenbank-Systems und den massiven staatlichen Interventionen hat sich nun aber die Ideologie von der Selbstregulierung der Märkte ad absurdum geführt. So schlimm die Folgen sind, politisch eröffnet die Krise die Chance, endlich gegen die privat organisierte Anarchie der Finanzindustrie mit ihren steuer- und regelfreien Zonen von den Kaiman-Inseln bis nach Hongkong vorzugehen. Wenn Notenbanker und Finanzminister das weiterhin verweigern, dann sollten eben die Parlamente die nötigen Reformen vorantreiben. Eine bessere Gelegenheit, die Finanzbranche vor ihrer eigenen Zerstörungskraft zu schützen und auf ihre Kernaufgaben zurückzuführen, wird sich so bald nicht mehr ergeben."

Auf der nächsten Seite: Ob der Finanzplatz Amerika ausgedient hat und was die Finanzkrise mit der Titanic zu tun hat.

Basler Zeitung (Schweiz): Die Banken müssen sich nun selber helfen

"Der Konkurs gibt dem Markt das Signal, dass sich die Finanzindustrie in Zukunft nicht mehr im gleichen Maße wie bisher auf die Hilfe der amerikanischen Notenbank und der Regierung verlassen kann. Die Banken sind aufgefordert, sich selber zu helfen. So ist auch der Liquiditätspool zu verstehen, den zehn große Banken mit Beteiligung von UBS und Kredit Suisse übers Wochenende auf die Beine stellten. Der Pool ist eine Antwort auf die Vertrauenskrise im Finanzsystem, in der Banken ihre Liquidität lieber horten, als Geld in Umlauf zu bringen, um damit das System in Gang zu halten. Wie funktionstüchtig dieser Liquiditätspool ist, lässt sich kaum schlüssig beurteilen. Wichtiger ist vielmehr, dass die Banken endlich damit begonnen haben, sich selber zu helfen."

El Periódico (Spanien): Sparer und Steuerzahler kommen für Bankenpleite auf

"Es ist wie vor einem Jahr, nur schlimmer. Als im August 2007 die Hypothekenkrise das Bankensystem erschütterte, sprach man von Rissen in einzelnen Seitenwänden des Gebäudes. Eine solche Wand könne schon mal einstürzen, solange die tragenden Wände intakt blieben, hieß es damals. Nun aber treten selbst in den Stützpfeilern Risse auf. Es zeigt sich jetzt, dass die neokonservative Politik einer totalen Selbstregulierung des weltweiten Bankensystems verheerend war. Nun werden alle zur Kasse gebeten, die Sparer wie die Steuerzahler. Das ist unmoralisch. Aber man muss immer wieder daran erinnern, wenn eine Bank zusammenbricht."

La Stampa (Italien): Das Herz des US-Finanzsystems

"Das Herz des amerikanischen Finanzsystems macht eine dramatische Verwandlung durch. Ein Prozess irreversibler Veränderung, den es so seit 1929 nicht mehr gegeben hatte. Erst vor zehn Tagen war der amerikanische Staat gezwungen, die beiden Hypothekenfinanzierer- Giganten Fannie Mae und Freddie Mac zu retten (...). Am vergangenen Wochenende wurden hingegen die großen Wall-Street-Häuser, die das Herz des globalen Finanzsystems sind, von einem heftigen Ruck erschüttert. Nach Wochen intensivster Verhandlungen, um einen Käufer zu finden, hat Lehman Brothers in New York Insolvenz angemeldet: Ein fast undenkbares Ereignis."

Der Standard (Österreich): Hemmungsloser Missbrauch

"Eines hat das vergangene Jahr gelehrt: Es gibt keinen raschen, schmerzlosen Ausweg aus dem Schlamassel, in das gierige Manager und achtlose Aufseher die Finanzwelt geführt haben. Banken und Anleger müssen gezwungen werden, Risiko wieder richtig einzuschätzen und nur in jene Papiere zu investieren, die sie verstehen. Der Weg dorthin ist hart. Aus Angst vor dem Mega-Kollaps haben Notenbanker und Regierungen den Banken jahrelang Freifahrtscheine ausgestellt, die von diesen hemmungslos missbraucht wurden. Wenn das US-Bankensystem die Krise übersteht, dann könnte wieder Vernunft in die Finanzwelt einkehren. Aber die nächsten Tage werden die Welt noch viel an Nerven kosten."

La République des Pyrénées : Niedergang der USA, Aufstieg Asiens

"Die große Wende heute ist der relative Niedergang der USA. Dass an die Stelle der USA ein anderes Wirtschaftszentrum - sei es indisch oder chinesisch - tritt, steht nicht unmittelbar bevor. Doch der wachsende Einfluss Asiens ist unabhaltbar. Und die USA demonstrieren eine unglaubliche Blindheit, was ihre Probleme anbelangt. Der bevorstehende Wahlkampf vermittelt nicht den Eindruck, als wollten sie reagieren. Sie gehen also einer sehr tiefen Rezession entgegen, die Europa nicht ungeschoren lassen wird."

Nepszabadsag (Ungarn): Wankende US-Giganten gefährden Europas Wirtschaft

"Die Entscheidungen amerikanischer Verbraucher beeinflussen die Leistung der Weltwirtschaft in bedeutenderem Maße, als wir es gedacht hätten. Der Rückgang der Nachfrage in Übersee hat die Produktion der europäischen Unternehmen, der EU-Volkswirtschaften, viel mehr gebremst als wir erwartet hätten. (...) Nachdem solche Giganten ins Wanken geraten oder eingestürzt sind, von denen dies niemand niemals geahnt hätte, fragt sich jetzt der Normalverbraucher: Wer ist der nächste? (...) Die Kreditkrise ist nicht zu Ende - es ist zu befürchten, dass sie jetzt erst richtig anfängt."

Le Républicain Lorrain: Ruf nach scharfen Regeln

"Die Situation bringt die Banken dazu, den Kredit-Geldhahn zuzudrehen - entweder aus übermäßiger Vorsicht oder weil sie selbst in Schwierigkeiten stecken. Damit verwehren sie Unternehmen oder Haushalten Geld, das für Investitionen gebraucht wird. Dies ist der Teufelskreis, der nun die amerikanische Wirtschaft - und mit ihr die europäische Wirtschaft - in eine ernste Depression stürzen kann. Um diesem Klima des allgemeinen Misstrauens ein Ende zu setzen, haben die Regierungen keine andere Wahl, als das weltweite Finanzsystem umzustrukturieren. Und endlich Regulatoren zu schaffen, von denen schon so lange die Rede ist"

Jyllands-Posten (Dänemark): Ganz großes Kino

"Niemand kann übersehen, dass die Zahl der Investmentbanken von Weltklasse an der New Yorker Wall Street in wenigen Monaten von fünf auf zwei zurückgegangen ist. Und das, obwohl es inzwischen alle möglichen Sicherheitsregeln für verantwortliche Unternehmensführung und rechtzeitiges Eingreifen gibt. Die Gefahrenlampen haben lange Zeit geblinkt. Aber die zuständigen Behörden hielten erst vornehm Abstand, um dann in der um sich greifenden Krise doch noch das gute Geld der Steuerzahler dem schlechten der Finanzindustrie hinterherzuwerfen. Am Ende mussten sie dann feststellen, dass auch der eigentlich gar nicht erklärte gute Wille der Steuerzahler nicht ausreichte, um die Krise zu bremsen. Jetzt ist die Katastrophe da, die genau wie der Untergang der "Titanic" zu vermeiden gewesen wäre. Man hätte sie vermeiden müssen."

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