"Bravourstück spätgotischer Baukunst":Das Statikwunder aus Kalkstein

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Ein wieder freigelegter Konsolpfeiler des Passauer Doms lässt Experten staunen - er trägt 60 Tonnen Last.

Rolf Thym

Der Passauer Bischof Wilhelm Schraml kann mit dem weißen Dom, den er von seiner Wohnung aus sieht, "auch ganz gut leben". Viel lieber als über den umstrittenen weißen Putz spricht er aber über den spirituellen Wert des Prachtbaus, der heuer 600 Jahre alt und mit einem Jubiläumsprogramm gefeiert wird - unter anderem mit Führungen und einer Ausstellung.

Stolz präsentiert der Passauer Dombaumeister Michael Hauck ein Gipsmodell des jetzt wieder freigelegten Konsolpfeilers, der die Fachwelt immer noch in Staunen versetzt. (Foto: Foto: Thym)

"Der Dom", sagt der Bischof mit sich hebender Stimme, "ist das Herzzentrum der Stadt Passau, er möchte die Leute mitnehmen in die Höhe, in den Himmel. Wir müssen den Leuten bloß helfen, dass sie den Zugang finden."

Was diesen Zugang betrifft, so gibt es außerhalb des Glaubens auch noch einen geographischen, der wiederum zu einer Besonderheit der 600-Jahr-Feier führt: Den Erbauern des Doms haben die besonderen räumlichen Verhältnisse eine wagemutige Konstruktion abverlangt, die - so sieht es der Dombaumeister Michael Hauck - "in Mitteleuropa einzigartig ist".

Es geht um einen Konsolpfeiler, der vor kurzem bei einer kirchlichen Feier samt Bauhüttenfest mit Bier, Imbiss und Jazzmusik enthüllt wurde und nun erstmals seit 1967 wieder sichtbar ist. Die Freilegung dieses "Bravourstücks spätgotischer Baukunst" - so bewundert Dombaumeister Michael Hauck das Können seiner Vorvorvorgänger - ist einer der Höhepunkte des Domjubiläums.

Platz für die hohen Herren

Frappierend allerdings ist der banale Grund für die Konstruktion jenes Pfeilers, dem der Dombaumeister so viel Respekt und Anerkennung erweist: Das statische Wunderding wurde nur deshalb erfunden, um großen Pferdefuhrwerken die Passage zur einstigen Bischöflichen Residenz zu ermöglichen, die heute die örtlichen Justizbehörden beherbergt. Wenn nämlich der nötige Dompfeiler nach den üblichen Regeln gebaut worden wäre, so hätten nur noch kleine Karren hindurchgepasst.

Nicht aber sechsspännige Kutschen, die schon aus protokollarischen Gründen erforderlich waren, wenn die damaligen Würdenträger in der Bischofsresidenz hohe und höchste Gäste empfingen.

Weil also den Zelebritäten keinesfalls ein paar Meter Fußweg zuzumuten war, mussten sich die Baumeister dringend eine Lösung einfallen lassen. Den an dieser Stelle aus Gründen der Statik eigentlich nötigen dicken Pfeiler aus Kalkstein bauten sie deutlich schmaler als die Nachbarpfeiler.

Erst in einer Höhe von etwa siebeneinhalb Metern zogen sie über die Fassade hinausragende Steinplatten ein, die sich nach unten in einer Konsole verjüngen, vergleichbar einem halbrunden Trichter. Dieses gewagte Stützsystem, unter dem nichts mehr war, hat die beachtliche Last von 60 Tonnen zu tragen. Darunter war genügend Platz für die Sechsspänner, und alle waren es zufrieden - bis 1967. Da erschien den damaligen Waltern über den Dom die "anspruchsvolle und formal einzigartige Lösung", wie der heutige Dombaumeister Hauck den Konsolpfeiler nennt, als zu gefährlich.

Aus Furcht um die Statik des Domgebäudes wurde der erst in luftiger Höhe beginnende Pfeiler bis auf das gepflasterte Trottoir verlängert. Weil zunächst einmal der Druck abgefangen werden musste, wurden drei stählerne Stützen samt hydraulischer Hebegeräte eingemauert. Verblendet wurde alles mit Steinquadern.

Auf der nächsten Seite erfahren Sie, weshalb Haucks Arbeit bisweilen der eines Chirurgen ähnelt und wie lange im Dom noch ein Gerüst stehen wird.

Von 1968 an war der luftige und platzsparende Konsolpfeiler nicht mehr zu sehen. 1988 stieß dann aber der damals erst 27 Jahre alte Steinmetz, Steinbildhauer und Kunsthistoriker Michael Hauck aus Würzburg zur Dombauhütte - als deren neuer Meister. Er fand Pläne des zubetonierten Konsolpfeilers und wunderte sich darüber, dass sich nicht einmal mehr ältere Passauer an diese architektonische Einzigartigkeit erinnerten.

Nun ist Hauck ein überzeugter Bewahrer des Alten. Er setzt nicht so schnell neues Mauerwerk ein, sondern restauriert und konserviert lieber die alten Kalk- und Grünsandsteine, die vor 600 Jahren aus den Steinbrüchen im heutigen Bad Abbach gut 175 Kilometer weit auf der Donau antransportiert worden waren. Der unter Beton verschwundene Konsolpfeiler ließ den Dombauhüttenmeister nicht los. Jahre vergingen.

"Chirurgische Kleinarbeit"

2004 schließlich begann Hauck, alle nötigen Zustimmungen von Behörden und Kirche für die Freilegung der alten Konstruktion einzuholen. Es begann ein Projekt, das wiederum großes statisches Können verlangte: Um die von oben her drückenden Kräfte abzufangen, wurden lange Edelmetallstangen horizontal und schräg nach oben weisend ins Mauerwerk eingebaut.

Als die Standfestigkeit gesichert war, begann "eine wirklich chirurgische Kleinarbeit", beschreibt Hauck die Mühen, den Beton vom alten Kalkstein zu lösen. Zehn Monate lang dauerte die Fieselei. 70.000 Euro kostete die Freilegung. Und nun können die Passauer seit wenigen Tagen den Konsolpfeiler wieder sehen, mit all seinen fein geschwungenen Verzierungen.

"Wir haben für die Stadt Passau ein wichtiges städtebauliches Detail wiederhergestellt", freut sich Norbert Sterl, der beim staatlichen Bauamt Passau für den Dom zuständig ist. Seit 1930 übrigens, als mit der grundlegenden Sanierung begonnen wurde, war der mächtige, aus einem gotischen Chor und einem barocken Längsbau bestehende Bau nie ohne Gerüste zu sehen. So wird es vermutlich auch bis zum Jahre 2012 bleiben.

Erst dann, so schätzt Sterl, werde der Dom soweit instandgesetzt sein, dass "nur noch Restarbeiten nötig sein werden". Als nächste große restauratorische Arbeit will sich der Dombauhüttenmeister mit seinen derzeit 16 Steinmetzen an die 15 Quadratmeter große Grundsteinlegungs-Inschrift samt Sonnenuhr machen.

Weil das dazu nötige Geld leider nicht vom Himmel fällt und der heuer zur Verfügung stehende Ausnahme-Jahresetat in Höhe von 750.000 Euro - sonst sind es 450.000 - nicht für alles reicht, wurde eine Armbanduhren-Serie zum Stückpreis von 49,50 Euro aufgelegt, in Varianten für Herren und Damen, jeweils 1407 Exemplare, passend zur Gründung des Doms im Jahr 1407. Die Ziffernblätter sind aus garantiert im Mittelalter gehauenem Abbacher Grünsandstein geschliffen.

Michael Hauck trägt eine dieser Uhren - mit tiefer Verbundenheit, die wohl nur ein Dombauhüttenmeister empfinden kann, dem alter Stein unendlich viele Geschichten erzählt über die Vergänglichkeit der Zeit.

© SZ vom 29.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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