Alten-WG:Teil 2: Organisation des Alltags

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Stadt Göttingen beteiligt sich an der Finanzierung

Sie sind der Stolz des "Vereins für Freie Altenarbeit Göttingen", des Initiators, Trägers und Begleiters des Alten-Wohnprojekts. Ein Projekt, das auch die Stadt Göttingen überzeugte, die dem Verein die denkmalgeschützte Villa zur Nutzung überließ. 1,66 Millionen Mark kostete der Umbau, abgetragen wird der Kredit mit den Mieten für die elf Wohnungen, die in das Haus eingebaut wurden, jede so unterschiedlich wie die Bewohnerinnen.

Verein mischt sich nicht ein in den Alltag

Der Verein ist der zwölfte Mieter, ein spiritus rector, der Erzählcafés und Liederabende organisiert, und wie jeder ordentliche Hausgeist unbemerkt für gute Atmosphäre sorgt. Einmischung in WG-Belange ist verpönt: "Wenn wir um Rat gefragt werden, sind wir natürlich da," sagt Michael Jasper, der Vereins- Vorsitzende, "aber die Frauen regeln ja doch lieber alles alleine."

Klare Aufgabenteilung

Jede Frau hat eine Aufgabe im Haus. Frau Sörgel, klein, weißhaarig und immer gut gelaunt, steht als erste auf, öffnet morgens die Türen, fast alle, damit frische Luft hereinkommt, sie dreht auch gleich die Heizkörper auf, damit keiner frieren muss.

Frau Doktor Leuner, Psychotherapeutin und Hobbymalerin, schließt abends ab, schaut, ob die Lichter aus sind und die Heizungen wieder runter gefahren sind. "Frau Sörgel vergisst das schon mal", sagt Frau Doktor Leuner streng, und Frau Sörgel strahlt dankbar zurück: "Eine muss ja nach dem Rechten sehen."

Frau Gaber, Kindergärtnerin und Besitzerin eines Autos namens Clemens, verwaltet das Gemeinschaftsgeld, von dem der Rasenmäher und die Schlagbohrmaschine gekauft wurden - auf besonderen Wunsch von Frau Lauenroth, die sich um den Garten kümmert, einkaufen geht für die, die nicht mehr gut zu Fuß sind, und die sich auch mal an den Sicherungskasten traut.

Frau Plotzki geht jeden Morgen zu den elf weißen Briefkästen und holt die Zeitungen herein; Frau Sommerlade ist mit ihren 90 Jahren aller Pflichten entbunden.

Frau Queisser-Westermann wedelt in der Luft, um den leichten Brandgeruch in der Gemeinschaftsküche zu vertreiben. "Den Ofen für die dicke Rippe hatte ich wohl ein bisschen zu hoch eingestellt", wispert sie. Der große Topf mit der Möhrensuppe steht noch immer auf dem Herd, sie hat extra mehr gekocht: "Falls noch jemand kommt und sich was nehmen will".

Jedes Alter hat seine eigene Zeit

Sie würde gerne öfter gemeinsam mit den anderen essen, "das wäre billiger und geselliger". Mit ihren 63 Jahren ist die Werbekauffrau die WG-Jüngste - aber ihr Aktionsdrang stößt nicht immer auf Gegenliebe. "Wir Alten brauchen mehr Ruhe", sagt die 83- jährige Frau Doktor Leuner gerne, auch Frau Lierse, die 74-jährige Waldorflehrerin, meint, jedes Lebensalter habe seine eigene Zeit: "Jeder macht seins und man freut sich, wenn man andere trifft."

Eigenes Bad, eigene Küche

Michael Jasper lacht, weil er sich an die Empörung der Frauen erinnert, als er, beim Umbau der Villa vor neun Jahren, verkündete, für eine Elfer-WG dürften vier bis fünf Bäder und eine Küche ja wohl ausreichen. Die Damen liefen Sturm: Gemeinschaftsküchen, Kollektivbäder, das erinnere sie an Kriegs- und Notzeiten, furchtbar, undenkbar!

Jetzt haben alle eigene Bäder und Kochnischen. "Da muss man nicht wegen jedem Schluck Dosenmilch in die Küche laufen", sagt Frau Lierse. Auf dem Sims vor ihrer Tür liegt eine Banane mit einem Post-it-Zettel, darauf in Sütterlin-Schrift: "Habe mir vom Kraut genommen, es war sehr gut, vielen Dank!" Sie lächelt, nimmt die Banane und zieht leise die Tür hinter sich zu.

Keine Familie

"Wir sind näher dran am anderen", versucht Frau Gaber die Atmosphäre zu beschreiben. "Ein merkwürdiger Zusammenhalt, der gar nicht so sichtbar ist", bestätigt Frau Doktor Leuner, rückt die Brille zurecht und räuspert sich, um das Gruppenphänomen zu erläutern. Bis vor wenigen Jahren hat sie noch Patienten zur Analyse hier in ihrer Wohnung empfangen. "Wir sind keine Familie und auch keine klassische WG, eher so ein Team", sie lacht. "Ein gruppendynamischer Selbstversuch. Das hält einen lebendig."

Wochenplanung

Dazu gehört auch die wöchentliche Konferenz, jeden Dienstag um drei in der Bibliothek, Frau Doktor Leuner führt Protokoll. Dass die Konferenz in den acht Jahren auch nur einmal ausgefallen wäre, daran kann sich keine erinnern. "Dazu passiert hier viel zu viel!"

Sie reden: Was müssen wir für die Gemeinschaftsräume kaufen, wer besorgt ein Geburtstagsgeschenk für Frau Gaber, die am Sonntag 80 wird, wer repariert die Fensterbretter - und müssen wir denn wirklich wieder so viel Geld für den Garten ausgeben, Frau Lauenroth?

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