Spieleindustrie im Wandel:Fast wie im richtigen Leben

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Computerspiele der Zukunft werden massiv in den Alltag eingreifen.

Harald Fette

(SZ vom 12.2.2002) - Was im richtigen Leben nur im Schweiße des Angesichts oder gar nicht zu erreichen ist, lässt sich im Computer spielend verwirklichen: Drache töten, Belohnung kassieren, Haus bauen, Prinzessin heiraten. Die Spielfiguren bewegen sich in künstlich geschaffenen Landschaften, die immer detailreicher und für den Betrachter realer wirken. War Super-Mario auf dem Nintendo-Gameboy noch ein knuddeliger Klempner im Comicstil, nimmt Lara Croft im PC-Spiel "Tomb Raider" schon die Züge eines Hollywood-Models an.

Spiele per SMS-Textmeldung werden immer populärer. (Foto: Foto: AP)

Ritter mit Ärger im Büro

Computerspiele wirken als treibende Kraft auf die Hardware-Hersteller. Die Phantasiewelten verlangen stetig nach größerer Prozessorleistung und aufwändigeren Grafikkarten. Um sich in virtuellen Welten wohl zu fühlen, nehmen die Spieler zudem Charaktere an: Per Internet zu Gemeinschaften zusammen geschlossen, verstecken sich hinter Elfen und Rittern Leute, die in der Schule Probleme mit der Grammatik oder im Beruf Ärger mit dem Chef haben.

Diese Vorreiter-Stellung für die Industrie werden die Spiele weiter ausbauen. Denn auf der Milia, der jährlichen Multimedia-Messe in Cannes, war deutlich zu erkennen, dass sich das Freizeitvergnügen auf mobile Geräte verlagert. Ein Prototyp dafür ist das Spiel "Majestic", das vor genau einem Jahr in Cannes vorgestellt wurde. Hier bauen die Spieler im Internet gemeinsam eine Phantasiewelt auf, in der sie einer Geheimorganisation auf die Spur kommen müssen. Das Revolutionäre bei "Majestic" war, dass der PC seine Schlüsselstellung verloren hatte. Hier konnte es auch passieren, dass das Handy abends im Restaurant klingelte und den Spieler in einer denkbar unpassenden Situation vor neue Aufgaben stellte. Das Ziel: Der Anwender widmet sich stärker dem Spielgeschehen, wobei sich Alltag und virtuelle Welt vermischen. Die Spielerfahrung wird dadurch noch intensiver.

Im April allerdings ist Schluss mit "Majestic". Hersteller Electronic Arts wird das Online-Spiel mangels Rentabilität einstellen. "Majestic war seiner Zeit voraus", urteilt Paul Jackson, Analyst beim Beratungsunternehmen Forrester Research. Es sei aber nur eine Frage der Zeit, bis die Voraussetzungen für einen Nachfolger von "Majestic" besser stünden. Der Aktiencrash und die Terroranschläge vom 11. September 2001 hätten der Branche einen Schock versetzt, bestätigt Joanna Shields, stellvertretende Geschäftsführerin des amerikanischen Internet-Dienstes Real Networks: "Die ökonomischen und politischen Ereignisse verzögern die Entwicklung."

Grobe Monster

Dass sie aber weitergeht, dafür gibt es allerhand Indizien. Zum einen werden die technischen Möglichkeiten für die Spieler von Jahr zu Jahr besser. In Europa soll sich laut Forrester Research die Zahl der Haushalte mit Breitband-Anschluss in den nächsten fünf Jahren verdoppeln, die Anzahl der Spieler mit mobilen Geräten wie dem Handy sogar mehr als verzehnfachen.

Nokia hat bereits Mobiltelefone in der Schublade, die dank Farbdisplay dem Spieler eine Erlebniswelt bieten, die einmal weit über die Erfahrungen mit "Majestic" hinaus gehen könnte. Bildschirm und Software zur Komprimierung von Bild, Ton und Video sorgen dann für ein Szenario, das Joanna Shields als "allgegenwärtig und vereinnahmend" bezeichnet.

Zum anderen nehmen Handynutzer die Möglichkeit, unterwegs mit ihren Geräten zu spielen, offenbar dankbar an. In Deutschland können sich Kunden zunehmend mehr Spiele auf ihre Geräte laden, manche Mobiltelefone werden sogar schon mit einer Art Steuerknüppel verkauft. Noch größeren Erfolg haben die Spiele aber in Japan. Dort krabbeln grob-gepixelte Monster, die sich per Tastendruck steuern lassen, in schwarz-weiß über die Bildschirme. Ausgerechnet völlig veraltete und tot geglaubte Spiele wie "Pacman" oder "Snake" fesseln die Handybesitzer und erzielen unter den 30 Millionen Abonnenten des mobilen Internet-Dienstes "i-mode" in Japan hohe Quoten. Dabei wäre dieser Service mit seinen hohen Übertragungsraten durchaus in der Lage, auch die bunten Bilder zu übertragen, von denen die Real-Networks-Managerin Shields spricht.

Das Schwert vom Meister

Auch Spiele per SMS-Textmeldung werden immer populärer. Der Fernsehsender RTL etwa bietet sein Quiz "Wer wird Millionär" als Spiel für das Handy an. Geradezu bizarr ist das Projekt "Surrender Control" (Gib die Kontrolle auf) des britischen Performance-Künstlers Tim Etchells. Es fand offenbar Zulauf, obwohl dort die Regeln und der Sinn für die Beteiligten völlig unklar blieben. Wer nach einer ersten SMS auf seinem Handy zustimmte mitzumachen, bekam einige Tage lang zunehmend unangenehme Aufgaben gestellt: etwa jemandem in die Toilette zu folgen.

All diese Indizien belegen für die Spieleentwickler, dass ein Potenzial für innovative Produkte vorhanden ist, die sich vom PC als alleiniger Basis verabschieden. Doch je weiter die Spiele ins Leben eindringen, desto größer wird auch der Drang, sich aus der Realität zu verabschieden. "Es folgt ein Driften in eine virtuelle Welt", warnt Jürgen Fritz, Sozialpädagoge an der Fachhochschule Köln, "die in ihrem Abwechslungsreichtum die reale Welt für manche übertrifft."

Der Schein könnte damit attraktiver werden als das Sein, fürchtet Fritz. Das Leben in der Online-Gemeinschaft biete weniger Hürden als die Realität. Der Austausch mit anderen Figuren im Spiel befriedige das soziale Bedürfnis nach Kommunikation. Die äußere Hülle, die der Computer generiert, werde dort als das Entscheidende akzeptiert. Das könnte den Spielern auf Dauer die Kraft rauben, sich mit konfliktbeladenen Alltagssituationen und politischen Problemen auseinanderzusetzen. "Die möglichen Belohnung im Politischen sind viel geringer", warnt Fritz , "als wenn man in der Spielewelt herum geht, vom Meister ein Schwert geschenkt bekommt und damit den Drachen erlegt."

Die Ausweitung der virtuellen Welt, die mit besserer Technik sowohleiner zunehmends realistischer in derwerdenden Darstellung als auch durchund einer umfassenden Verbreitung mobiler Geräte immer penetranter im Alltag Einzug hält,

Die Milia, alljährliche Messe für digitale Medien in Cannes, gilt als Gradmesser für zukünftige Technologien. In den letzten Jahren wurden Themen wie elektronisches Publizieren, Internet und E-Commerce, interaktives Fernsehen, Online Gaming oder mobile Kommunikation via Internet mit viel Euphorie und Optimismus verkündet. Nicht so in diesem Jahr. Statt zukunftsweisende Technik und neue Geräte vorzustellen, klammern sich die Hersteller an Althergebrachtes, gehen sogar noch hinter den Stand der Technik zurück.

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