Literatur:The Language of New Media

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Kunst kommt von "Cut and Paste": Die Sprache der Neuen Medien, Falte für Falte und Haar für Haar entschlüsselt von Lev Manovic.

Cornelia Vismann

(SZ vom 20.4.2002) - Gewandfalten und Menschenhaar sehen in digitalisierten Darstellungen oft so unnatürlich flächig aus, als bestünden sie aus Plastik. Das ist nicht unbedingt ein Fehler des Mediums. Schließlich würden sich auch Madonnen mit Schleier oder Damen mit Pelzhüten trefflich, Falte für Falte und Haar für Haar, ins Computerbild setzen lassen, auch wenn dies einigen Rechenaufwand erforderte. Doch ist das Militär, das die digitalisierte Abbildungstechnik zuerst entwickelt hat, seit jeher auf Landschaften und nicht auf Lockenpracht spezialisiert. An vergleichsweise leicht zu simulierenden Geländeformationen lernen Piloten das Überfliegen und Bombardieren von Landschaften. Die Unterhaltungsindustrie hat die Oberflächen vom Militär übernommen und nicht zuletzt daraus erklärt sich, warum ein Vermeer der Computergraphik bis heute fehlt.

(Foto: N/A)

Lev Manovich, nach eigenem Bekunden Künstler und Programmierer, spottet gerne über das kunstlose Design auf Computerbildschirmen. Monster können sie abbilden, aber an natürlicher Schönheit scheitern die Computergraphiker. Der in Kalifornien lehrende Professor für Visual Arts spielt den Formenreichtum der Malerei gegen die derzeit angebotenen einförmigen, allzu glatten Graphikprogramme aus und beherzigt damit, frei nach McLuhan, eines der Grundgesetze der Medientheorie: Erst der Medienvergleich schafft Medienreferenz. Wer über ein neues Medium sprechen will, muss auf ein altes Bezug nehmen.

Manovich nimmt auf die Medien Bezug, aus denen der Computer sich herleitet - nicht der Computer als Hardware von Rechenoperationen, sondern der Computer als Bildermaschine. So entsteht eine Genealogie der Ästhetik des Computers, die ihresgleichen in deutschsprachigen Veröffentlichungen noch sucht; in Amerika ist sie soeben als Taschenbuch erschienen.

Odysseus im Datenmeer

Der Autor, der hierzulande mit einem mittlerweile klassischen Aufsatz über die Entwicklung der "Screens" bekannt wurde, findet die Vorfahren der Computerästhetik in visuellen Medien, allen voran Fotographie und Kino. Ihre Darstellungsformen und -konventionen eignet sich der Computer an. Und darin liegt seine Neuheit. Dass der Computer ein "Neues Medium" ist, wie gern behauptet wird, heißt also nicht, dass er ohne Vorbild antritt. Das Neue liegt Manovich zufolge in den erweiterten Darstellungsmöglichkeiten. Sie verdanken sich dem Umstand, dass der Computer eine Kombination verschiedener Medien und ihrer Wahrnehmungsregime ist. Doch weil das Neue oftmals im Noch-nie-da- Gewesenen gesucht und gepriesen wird, gerät dieser Aspekt des "kombinatorisch Neuen" in Vergessenheit. Ganze Bildkulturen liegen darum brach. Manovichs Buch ist ein Plädoyer, die ästhetischen Potentiale zu aktivieren, die die Computergraphik bislang noch nicht annähernd genutzt habe.

Zu diesen Potentialen gehört zuallererst ein unermesslich reiches Bildmaterial. Seit sämtliche Bilder im selben Code gespeichert sind, hat sich ein digitalisierter Schatz an Gemälden, Photographien, Filmclips und Videotapes angesammelt, den man nur plündern müsste, um Kunst zu machen. Der Künstler als Compiler, und der Traum der Dadaisten, Surrealisten und Konstruktivisten von der Kunst als Montage würde wahr. Dem Autor der "Sprache der Neuen Medien" gefiele diese Vorstellung. Statt eines schöpferischen Akts aus dem Nichts stehen "Cut and Paste-Befehle" zur Verfügung, die jedermann, der sie anwendet, zum Künstler machen.

Hauptgewährsmann für Manovichs Thesen und übrigens dessen Landsmann ist der russische Filmemacher Dziga Vertov. Der habe vor allem ein Ziel gehabt: die Begrenztheit menschlicher Sehfähigkeiten und Bewegungsmöglichkeiten im Raum aufheben, um einen effizienteren Zugang zu Daten zu erhalten. Doch erfüllte das Medium Film dieses Ziel nur unvollkommen. Der Computer übernimmt für Manovich die Rolle des Vollenders. Die navigierbaren Datenräume des World Wide Web lösen die Versprechen der künstlerischen Avantgarde aus den zwanziger Jahren ein. Die verräumlichte Darstellung von Sinnesdaten im Computer geht nicht auf Vertov zurück, sondern auf militärische Flugsimulatoren von 1930. Diese haben unterdessen eine Kultur der Navigation im Netz geprägt, die den Autor an virtuelle Bewegungen zu Wasser denken lässt. Er bringt sie mit archaischen Seefahrer-Epen in Verbindung. Odysseus wird zum Ahnherrn aller Websurfer.

Doch sind nicht alle Nutzer des Netzes gleichermaßen Segler auf unergründlichen Datenmeeren. Manovich identifiziert unter ihnen auch solche, die den Cyberspace wie die unbekannte Weiten der Prärie erschließen. Was den einen Labyrinth und Geheimnis ist, fordert andere heraus, ihren Claim abzustecken. Entlang der Trennlinie zwischen der alten und der neuen Welt teilt Manovich die Netzpopulationen in den Typ des europäischen Flaneurs und den des amerikanischen Eroberers. Und siehe da: die beiden meistbenutzten Webbrowser "Netscape Navigator" und "Internet Explorer" entsprechen just diesen beiden Netztypen, dem Baudelairescher und dem Twainscher Prägung, oder sollen es zumindest nach dem Willen des Autors.

Kino aus dem Netz

Manovich liebt es, medientechnische und -theoretische Unterscheidungen auf allgemeinere ästhetische und kulturelle umzulegen, verheddert sich darin zuweilen auf sympathische Weise und fordert Widerspruch heraus. Keinen grundsätzlichen Widerspruch, sondern einen im Detail, der sich innerhalb der gelehrten und breit gefächerten Vorlage bewegt. Bestenfalls fügt er ihr weitere Differenzierungen und neue Korrespondenzen hinzu. Dem Autor wären diese Ergänzungen möglicherweise willkommen. Seine Art ist es nicht, letzte Medienwahrheiten zu verkünden. Er probiert vorhandene ästhetische Theorien und künstlerische Programme am neuen Medium aus, was fraglos ergiebiger ist, als dem Computer eine nagelneue Theorie überzustülpen.

Für Manovich ist das "Neue Medium" kein Modewort. Er darf es sogar im Plural verwenden. Die "New Media" im Titel seines Buchs sind These. Sie stehen dafür, dass die übrigen Medien mit Aufkommen des Computers nicht etwa verschwinden, sondern dass sie sich unterm Vorzeichen der Digitalisierung selbst erneuern. Der Computer wirkt zurück auf herkömmliche Medien und definiert sie neu. Darum behandelt das Buch nicht allein die Ästhetik des Computers, sondern auch die Computerisierung der Ästhetik im Allgemeinen. Das letzte Kapitel ist dem neuen alten Medium Kino gewidmet, das seine Bilder inzwischen durch ein Objektiv ebenso wie aus dem Netz bezieht. Daraus erwachsen andere Darstellungsmöglichkeiten. Und auch sie verleiten den neuen Vertov dazu, den alten Avantgardetraum von der Universalsprache der Bilder weiterzuträumen.

LEV MANOVICH: The Language of New Media. MIT Press, Cambridge/Mass. 2001. 354 Seiten, 24,50 Euro.

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