Kommentar:Tödliche Handlungsmuster

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Du sollst dir kein Bildnis machen: Brutale Filme und Videospiele liefern die Blaupause für Amokläufe und sollten deshalb verboten werden.

Jürgen Oelkers

(SZ vom 2.5.02) - Warum erschießt ein junger Mann seine Lehrer, gezielt, kaltblütig und im Stile einer Hinrichtung? Wenn von einer "Wahnsinnstat" die Rede ist, wird allzu schnell das Pathologische bemüht, die Unerklärlichkeit einer gestörten Psyche, die Generalisierungen nicht zulässt und nicht zulassen soll. Aber die "Einzeltäter" häufen sich, so dass die Ursachen nicht einfach in die zufälligen Gegebenheiten einer bestimmten Persönlichkeit abgeschoben werden können. Natürlich gleicht kein Täter dem anderen, die Tat selbst aber hat immer erstaunliche Parallelen mit anderen Taten.

Das schleichende Gift der Bilder ist nicht harmlos. Wer ständig Games benutzt, die alle Details von Töten nicht nur darbieten, sondern simulierend agieren lassen, wird nicht allein deswegen zum Täter, aber er hat alle Muster zur Verfügung, die er benötigt, wenn eine Situation wie in Littleton oder Erfurt entsteht. (Foto: N/A)

Seit Anfang der neunziger Jahre haben mehrere männliche Jugendliche in ihren Schulen Massaker verübt. Sie haben Rache an ihren pädagogischen Institutionen genommen. Betroffen sind zumeist nicht einzelne Lehrkräfte, die Objekt von persönlichem Hass wären, sondern die öffentliche Einrichtung selbst, die Schule. Die Täter reagieren anscheinend auf individuelle Kränkungen, für die etwas Abstraktes, nämlich eine gesellschaftliche Institution, verantwortlich gemacht wird. Es ist kein Zufall, dass der Täter von Erfurt mit seinem Amoklauf aufhörte, als er mit der Person eines Lehrers konfrontiert wurde, der ihm auf den Kopf zu sagte, was er getan hat.

Was an solchen Fällen abzulesen ist, lässt sich nicht als wachsende Gewalt-, sondern als wachsende Tötungsbereitschaft in der Öffentlichkeit bezeichnen. Hier liegt auch die Gemeinsamkeit mit den Massakern im Parlament des Schweizer Kantons Zug und in der Gemeindeversammlung im französischen Nanterre. An beiden Orten traten erwachsene Männer auf, die gewählte Volksvertreter wahllos töten wollten, um wiederum eine gesellschaftliche Institution zu treffen. In keinem dieser Fälle ging es um persönliche Bereicherung, vielmehr wurden Handlungen vollzogen, die als Fanal der eigenen Person gedacht waren und bei denen das Leben des Täters von Anfang an unter die Opfer eingerechnet wurde.

Die Muster dieser Taten entstammen den Medien und nicht einer "kranken Phantasie". Der Einwand, dass bei gleichem Konsum die Effekte verschieden sind und selbst hoher Konsum nicht automatisch zur Anwendung der Gewalt- und Tötungsmuster führt, ist in Wirklichkeit eine bestimmte Art der Bestätigung. Die Muster sind Bildfolgen, die gespeichert sind und jederzeit abgerufen werden können. Alle Gewaltvideos und alle brutalen Games haben eine bestimmte Voraussetzung, nämlich die Darstellung des Tötens ohne jede persönliche Beteiligung. Die Phantasie wird nicht selbst ausgedacht, sondern mit real wirkenden Bildfolgen nachvollzogen. Die Muster des Tötens sind nicht schrecklich, sondern lustvoll, und jeder kann sich in die Rolle des Täters versetzen, ohne innere Schwellen aufzubauen.

Suizid ist eigentlich ein Entschluss, das eigene Leben zu beenden. Der Freitod von Schülerinnen und Schülern ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder dokumentiert worden. Massaker in Schulen aber, die mit einem Selbstmord beschlossen werden, gab es zuvor nie. Sie zeigen, dass bestimmte Auslöser wie Schulverweise oder Kränkungen unter Mitschülern Gewaltvideos in Taten verwandeln können, die ohne jede Hemmung vollzogen werden. Wer die Türen von Klassenzimmern aufreißt und die anwesenden Lehrkräfte hinrichtet, und dies ein Dutzend mal, ist nicht einfach "ausgerastet", sondern vollzieht eine wohl vorbereitete Tat, die sich von keinerlei Gewissensregung ablenken lässt. Er hat die Hinrichtung des Lehrerstandes im Sinn.

Die Täter haben vorher mit dem Leben abgeschlossen, der Entschluss ist der von Rächern in eigener Sache, die zu wissen glauben, was sie tun. Ihr "warum" ist nicht rätselhaft. Der letzte Akt ihres Lebens soll möglichst viele Opfer kosten. Wie in den medialen Vorbildern wird die Tat umso spektakulärer, je mehr Opfer es gibt, und dafür genügt die reine Zahl, ohne dass irgendeine Beziehung nötig wäre. In diesem Sinne handelt es sich auch nicht um einen "Selbstmordanschlag".

Es gibt kein politisches oder ideologisches Motiv, sondern nur die Verknüpfung von persönlicher Kränkung mit den Mustern des Tötens, die abgerufen werden können, wenn der Entschluss zur Tat gefasst ist. Die Opfer werden nicht für irgendein höheres Ziel in Kauf genommen, sondern sie sind der Blutzoll für das persönliche Scheitern. Das setzt voraus, dass moralische Standards, die Hemmungen vorschreiben, ausgeschaltet werden können oder nie vorhanden waren.

Kinder und Jugendliche können sich heute problemlos Gewaltdarstellungen aller Art verschaffen. Vor allem die männlichen Jugendlichen sind mit den Mustern der realen Taten vertraut und reagieren darauf keineswegs überrascht, weil massakrierendes Töten nicht nur ständig zu sehen ist, sondern der Konsum dieser Videos zugleich eine Art Mutprobe darstellt. Es gehört zur Freiheitserfahrung heutiger Jugendlicher, sich diese Darstellungen anschauen zu können. Zwischen dem Spiel und der Wirklichkeit bestehen keine scharfen Grenzen, schon weil die Spiele selbst über keine moralischen Schwellen mehr verfügen.

Die bis heute bekannten Täter haben noch eine andere Gemeinsamkeit, sie sind nicht auffällig, weil niemand wirklich auf sie achtet. In Littleton haben die Täter mehrfach angekündigt, was sie vorhatten, ohne dass sie ernst genommen worden wären. In Erfurt hat der Täter erfolgreich verschleiern können, dass er nicht mehr das Gymnasium besucht. Der Entschluss zur Tat reift in einem geschlossenen Gedankenkreis, der sich nicht mitteilt, ohne dass irgend jemand bemerken würde, was in dem Kopf vor sich geht. Es sind vor allem diese einsamen Entschlüsse, die ratlos machen. Jede neue Tat erhöht die Wahrscheinlichkeit von Folgetaten, Prävention scheint angesichts der verdeckten Spezifik der Auslöser kaum möglich. Aber genau das kann nicht hingenommen werden.

Das schleichende Gift der Bilder ist nicht harmlos. Wer ständig Games benutzt, die alle Details von Töten nicht nur darbieten, sondern simulierend agieren lassen, wird nicht allein deswegen zum Täter, aber er hat alle Muster zur Verfügung, die er benötigt, wenn eine Situation wie in Littleton oder Erfurt entsteht. Daraus würde folgen, diese Games und Videos zu verbieten und nicht nur den Besitz, sondern bereits die Herstellung unter Strafe zu stellen, auch wenn die Produkte unterschwellig beschafft werden können. Sie sind gefährlich, gerade weil sie individuell ganz unterschiedlich wirken. Man kann nicht einfach auf Einsicht hoffen, weil es um eine erhebliche Minderheit von hard-core-Nutzern geht, die ihren Zugang uneinsichtig verteidigen werden. Es ist wie mit jeder Droge, sie gefährdet nicht nur die Nutzer, sondern zugleich die Anderen.

Es genügt also nicht, die Waffengesetze zu verschärfen. Wer Gewaltvideos und Games "ab 18 Jahren" frei gibt, riskiert, dass sie allgemein zugänglich bleiben. Die Darstellungen bewegen sich außerhalb aller zivilisatorischen Grenzen, es sind auch nicht nur Verherrlichungen männlicher Brutalität, sondern es sind allgemein nutzbare Tötungsanleitungen. Die Täter verfahren nach Mustern, die sie nicht selbst entwickeln müssen, sondern die gespeichert sind. Wenn die tödliche Phantasie Wirklichkeit wird, ist nicht nur ein "Einzelfall" zu beklagen.

Schließlich stellen sich auch pädagogische Fragen. Kinder integrieren sich nicht in die Gesellschaft, indem man sie der Schule oder noch einfacher sich selbst überlässt. Ihre Entwicklung steuert nicht auf frühe Selbständigkeit zu, sondern ist abhängig von Erfahrungsmilieus, in und mit denen ihr Selbstwert bestimmt wird. Dabei sind die Erwachsenen immer persönlich gefordert. Für die Erziehung gibt es keine Stellvertretung, aber die unausgesetzte Anstrengung ist offenbar nicht mehr selbstverständlich. Die Gesellschaft muss sich darüber im Klaren werden, was sie eigentlich mit ihren Kindern will.

Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft in Zürich.

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